Gott ist tot
schaffen, bevor die EvoP-Truppen sich von Mexiko nach Norden ergossen und wie ein Schwarm Heuschrecken alles auf ihrem Weg vernichteten.
Je weiter er von Mexico City weghumpelte, desto weniger Flüchtlinge bewegten sich noch, und bei Sonnenaufgang lagen die Toten so dicht, dass die Straße nahezu unpassierbar war: Menschenleichen zu Hunderten, ja Tausenden, mit zahllosen Tierkadavern dazwischen, Hunden, Ziegen, Hühnern und einmal sogar einem Gürteltier, plattgetrampelt und an den Rändern ausgebrutzelt von der Wüstensonne. Eine Zeitlang konnte er noch auf die Böschung ausweichen, aber selbst dort watete er schon bald durch Leichen, und schließlich hatte er keine andere Wahl, als über sie hinwegzuklettern, sich an Füßen, Armen und Nacken abstützend, als wären es Haltegriffe auf einem steilen Bergpfad.
Es war eine mühselige Angelegenheit, über Leichen zu gehen. Um sich von seiner Erschöpfung abzulenken, dem Hunger und Durst und dem stechenden Schmerz, der bei jedem Schritt durch sein Bein fuhr, dachte Arnold an seine Mutter. Erst versuchte er, erfolglos wie immer, sich ihr Bild vor Augen zu rufen. Dann richtete er die ganze Kraft seines Willens darauf, Klarheit in ihrem Kopf zu schaffen, damit sie bei seiner Rückkehr die sein würde, die sie immer gewesen war, nicht eine verwirrte Fremde mit dem Gesicht seiner Mutter, und hören würde, was er ihr zu sagen hatte.
Denn es war kein frohes, tränenreiches Wiedersehen, das ihm vorschwebte. Arnold liebte seine Mutter noch immer, aber die Zeit und die Entfernung hatten diese Liebe in ein vages, abstraktes Gefühl verwandelt, während seine Wut auf
sie real und unmittelbar war und in den Jahren bei den Marines eher noch zugenommen hatte. Er war kein zartbesaiteter Teenager mehr, der sich auf die Zunge biss, um nur ja nicht ihren Zorn zu wecken; er war ein Mann, der in einen tiefen, entspannten Schlaf fallen konnte, nachdem er keine zwanzig Minuten zuvor einem Gefangenen die Fingernägel ausgerissen oder ihm Glasscherben die Kehle hinuntergezwungen hatte. Ein Mann, kurz gesagt, der vor den Menschen in seinem Leben nicht kuschte.
Aber allmählich zweifelte er daran, dass es ihm vergönnt sein würde, mit seiner Mutter abzurechnen. Kurz vor Mittag, als die Sonne schon sengend aus der Höhe herabbrannte, gaben seine Beine unter ihm nach, und er brach kurz vor dem Gipfel eines Leichenberges zusammen. Eine geschlagene Minute verging, ehe es ihm gelang, sich auf den Rücken zu wälzen. Dann ließ er den Kopf keuchend auf die räudige Flanke einer toten Ziege sinken und warf einen Arm über die Augen, um sie vor der Sonne zu beschirmen. Er versuchte genug Willensstärke aufzubringen, um seine kraftlosen Muskeln zu mobilisieren. Vor ein paar Jahren, als er noch an die Macht des Willens und die übrigen Leitsätze der Postmodernen Anthropologie geglaubt hatte, wäre er durch die Kraft dieses Glaubens allein auf die Füße gekommen. Jetzt lag sein Glaube darnieder wie die Verteidigungslinien von Mexico City. Keine Nahrung, kein Wasser, kein Glaube, keine Chance.
Die Front lag inzwischen so weit hinter ihm, dass der Donner der Bomben und Geschütze nicht mehr bis zu ihm klang, und der Wüstenmorgen war still gewesen bis auf das gelegentliche auftrumpfende Krächzen der Geier. Aber nachdem er lange genug auf seinem Leichenberg gelegen hatte, um sämtliche schmerzhaften Kanten unter ihm, all die Knie und Ellbogen und Klauen und Hufe, einzeln zu spüren, drang ein
entferntes Wummern in sein Bewusstsein, so schwach zuerst, dass er es fast für Einbildung hielt, aber dann, nach und nach, immer lauter. Schließlich konnte er das scheppernde Grollen von Panzerketten ausmachen, und er öffnete die Augen und sah einen Schwarzkopf-Kampfpanzer mit anmontiertem Räumschild die Straße entlang auf sich zurollen. Kadaver türmten sich vor dem Räumschild und fielen dann seitlich herunter, übereinanderpurzelnd wie Wäschestücke in einem Trockner, die steifen Gliedmaßen in die Luft gereckt. Arnold hob den Arm und winkte schwach, und der Panzer stoppte einige Meter vor ihm; die Gasturbine wummerte im Leerlauf.
Unter anderen Umständen hätte es Arnold vermutlich stärker verblüfft, aus dem Panzerturm Crispy klettern zu sehen. Wenn er geistig mehr auf der Höhe gewesen wäre, zum Beispiel, oder wenn Crispy nicht in dem wohlverdienten Ruf gestanden hätte, genau der durchgeknallte Draufgänger zu sein, der sich einen Schwarzkopf als Fluchtfahrzeug stehlen würde, ohne jemals zuvor
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