Gott oder Zufall?
wird, ist dieses Szenario wenig plausibel: Viele Bereiche der Entwicklung des Gehirns hängen bekanntermaßen von Erfahrungen ab, ganz zu schweigen davon, dass eine Vorhersage anhand genetischer Informationen gewaltige technische und theoretische Probleme aufwürfe. Nehmen wir trotzdem an, dass in ferner Zukunft so eine Vorhersage mit Blick auf manche Teile im Gehirn möglich würde. Dann könnte man behaupten, dass die Entwicklungsbiologie dieser Teile – im dritten (epistemologischen) Wortsinn – tatsächlich auf die Genetik reduziert worden sei. Unlogisch wäre dagegen die Behauptung, es habe eine Reduktion im ersten (ontologischen) Sinn – die Ausmusterung eines unwissenschaftlichen Konzepts – oder eine im zweiten (methodologischen) Sinn (Festsetzung einer niedereren Ebene) stattgefunden, bei der eine bestimmte (aber welche?) Ebene als die relevanteste ausgemacht worden sei. Nichts sei hier ausgemustert worden. Vielmehr sei es noch notwendiger geworden, Phänomene wie Zellmigration, Wachstum von Axonen, Zell-Zell-Erkennung usw. auf den verschiedenen Ebenen zu beschreiben. Ohne eine Beschreibung der Phänomene in der Entwicklung gebe es nichts mehr zu erklären.
Das Christentum hat von zulässigen Reduktionen nichts zu befürchten. Scheinbare Bedrohungen unserer Stellung als Mensch und unseres Glaubens sind einer irrigen Reduktion und der Nichtsalserei geschuldet.
Die naturalistische Betrachtungsweise des Menschseins
Wissenschaft beruht auf dem philosophischen Naturalismus, der Annahme, dass ihre Gegenstände zuverlässigen Gesetzen gehorchen. Wenn ein Experiment ein überraschendes Ergebnis erbringt, das widersinnig erscheint, mag man einen Fehler vermuten und den Versuch wiederholen. Dafür wird kaum jemand ein Wunder (oder einen böswilligen Dämon oder Ähnliches) verantwortlich machen. In den meisten Forschungsbereichen ist dies so selbstverständlich, dass es keiner Erwähnung bedarf. Erforscht man jedoch das, was den Menschen ausmacht, und lässt dabei das Göttliche systematisch außen vor, entsteht mitunter der Anschein, als gehe man von atheistischen Grundannahmen aus.
Dem begegnen Christen häufig mit dem Hinweis, dass man Gottes Wirken auch untersuchen könne, ohne in der wissenschaftlichen Beschreibung explizit darauf hinzuweisen. Gott bleibe deshalb nicht außen vor, da ja die untersuchten wissenschaftlichen Gesetze faktisch die Gesetze Gottes seien. Wird dies zum unumstößlichen Prinzip erhoben, ergeben sich allerdings Probleme. Trotz großer Unterschiede zur deistischen Konzeption, wonach Gott die Abläufe der Welt angestoßen und sie dann sich selbst überlassen hat, hat so eine Argumentation ganz ähnliche Konsequenzen. Nach beiden Anschauungen bestimmen die Ausgangsbedingungen des Universums und der unpersönlichen Naturgesetze (und vielleicht der Zufall) sämtliche Ereignisse. Wie in so einen Rahmen die liebevolle Vaterschaft Gottes, die Einwohnung des Heiligen Geistes oder die Fleischwerdung hineinpassen, ist nur schwer zu erkennen.
Akut wurde das Problem des Naturalismus im 17. Jahrhundert, als wissenschaftliche Gesetze formuliert wurden und der mechanistische Ansatz triumphierte. Doch zuvor hatte bereits Calvin darauf hingewiesen:
Schließlich meint er (der Sinn des Fleisches), zur Erhaltung der Dinge genüge die Kraft, die er der Welt am Anfang mitgegeben hat. Der Glaube dagegen muss höher dringen; denn er muss wissen: der, den er als den Schöpfer aller Dinge kennengelernt hat, der ist auch ihr ständiger Lenker und Erhalter, und zwar geschieht diese Erhaltung nicht dadurch, dass er das ganze Weltengebäude wie auch seine einzelnen Teile bloß allgemein in Bewegung erhält, nein, er trägt, nährt und umsorgt in besonderer Vorsehung jedes Einzelne, das er geschaffen hat, bis zum geringsten Sperling.
Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion (1559)
Wie ist die Maschinerie eines Universums, das von den (wenn auch göttlichen) Gesetzen der Natur beherrscht wird, mit der besonderen Vorsehung Gottes vereinbar? Ein Teil der Lösung liegt in der Einsicht, dass der von der Wissenschaft geforderte Naturalismus nicht zum absoluten Prinzip erhoben werden muss. Wissenschaft erfordert einen methodologischen (oder wissenschaftlichen) Naturalismus, aber keinen ontologischen (der auch als metaphysischer oder philosophischer Naturalismus bezeichnet wird).
Wissenschaft beruht auf dem Naturalismus, der Vorstellung, dass alle Erscheinungsformen im Universum mit den
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