Gott oder Zufall?
Wissenschaftler – vornehmlich Neurowissenschaftler – vertreten derzeit eine Art monistische Position. Im Gegensatz dazu halten die meisten Christen heutzutage an der Tradition der Kirche fest und befürworten eine dualistische Auffassung der menschlichen Person – trotz der wissenschaftlichen Beweislage.
Doch das gilt nicht allgemein. Wolfhart Pannenberg (*1928) ist beispielsweise ein Theologe, für den das Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft lange Zeit besonders wichtig gewesen war. Er meint, die Erkenntnisse hätten gezeigt, dass die engen Zusammenhänge zwischen physischen und psychischen Begebenheiten die Glaubwürdigkeit traditioneller Vorstellungen einer vom Körper getrennten Seele – die sich beim Tod vom ihm löst – erschüttert hätten. Sein Verständnis stellt ein neues Bild einer Menschheit dar, das nahezu allen klassischen Vorstellungen in der gesamten Kulturgeschichte drastisch widerspricht. Dennoch halten viele die Kontroverse zwischen denen, die eine dualistische Auffassung von der menschlichen Person vertreten, und denen, die sich für eine monistische Perspektive aussprechen, für eine Debatte zwischen der Bibel und der Wissenschaft. Doch ist dem so? Stellen die Schlussfolgerungen der Neurowissenschaft über den Leib-Seele-Dualismus wirklich die Schlüssigkeit des biblischen Glaubens in Frage?
Auch wenn es umkämpftes Gebiet bleibt, scheint es bereits so auszusehen, dass wir dieses Thema nicht so sehr in Hinblick auf eine vorgebliche Spannung zwischen Wissenschaft und Bibel diskutieren sollten, sondern eher im Sinne eines Wettstreits, bei dem eine wissenschaftliche Anschauung einer anderen gegenübersteht. Auf der einen Seite stehen die eine von Platon (427–347 v. Chr.) vertretene antike »Wissenschaft« sowie die von den frühen Kirchentheologen weiterentwickelten Formen, die eine Theologie der Menschheit hervorgebracht haben, wie sie die Lehre der Kirche seither entscheidend prägt. Auf der anderen Seite gibt es die neurowissenschaftlichen Untersuchungen der vergangenen 40 Jahre, nach denen die traditionell mit der »Seele« verknüpften Fähigkeiten sich als Fähigkeiten des Gehirns erwiesen haben.
Engel halten Seelen fest, Ausschnitt aus einem Fresko, etwa 1350 in Pisa von Francesco Traini oder Buonamico Buffalmacco gemalt © © Corbis/Sandro Vannini
Der philosophisch-wissenschaftliche Blick Platons war auf eine komplexe innere Persönlichkeit mit einer Seele gerichtet, die zwei oder drei Teile umfasste; davon war der wichtigste die »Vernunft« oder die »Rationalität«. Das war eine klassische Voraussetzung des Leib-Seele-Dualismus. Im ersten Jahrhundert nach Christus bezeichnete der alexandrinische Jude Philo die menschliche Seele als die
psychēs logikēs
– das heißt als »rationale Seele«. Ferner deutete Philo die Schöpfungsgeschichte der Menschheit als eine zweiteilige Saga. In Genesis 1,26–27 erschuf Gott die
psychēs logikēs
oder die »rationale Seele«, die Philo als Abbild Gottes bezeichnete. Und dann erschuf Gott in Genesis 2,7 den Leib, dem er diese »rationale Seele« einhauchte.
Auch wenn Philos Sicht von Schöpfung und menschlicher Person sich nicht im Alten oder Neuen Testament finden lässt, wurde sie von den frühen Kirchenvätern aufgegriffen. Viele von ihnen waren weithin bekannte Gelehrte, die sich – wie Philo – damit befassten, zu demonstrieren, wie der biblische Glaube mit den zeitgenössischen intellektuellen Strömungen vereinbar sei. Sie taten das, indem sie Formulierungen verwendeten, die in der Bibel nicht vorkamen und die die menschliche Person als »rationale Seele« bezeichneten. Auf diese Weise übernahmen so frühe Theologen wie Clemens, Tertullian und Origenes Vorstellungen vom Mittelplatonismus, um die rationale Seele als das Eigentliche am Menschen zu bestimmen. Damit war für Hunderte von Jahren der Leib-Seele-Dualismus die »Wissenschaft«, welche die kirchliche Interpretation ihrer heiligen Schriften prägte – und zwar so sehr, dass eine Infragestellung offenbar eine Infragestellung der heiligen Schriften selbst, und damit auch des Glaubens der Kirche, bedeutet hätte, wie es heute scheint. Tatsächlich betonen Bibel und frühe Kirche bei ihrem Nachdenken über die menschliche Person das Ausmaß, bis zu dem die frühen Kirchentheologen den von Philo bereiteten Weg folgen und damit die monistischen Vorstellungen der Heiligen Schrift ablösen.
Die Verfasser der Bücher des Neuen
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