Gott oder Zufall?
Testaments vertraten eine ganze Palette an »wissenschaftlichen« Auffassungen, manche dualistisch, manche monistisch.
Aufgrund dieser Vielfalt können wir nicht sicher sein, welche wissenschaftlichen Auffassungen den Verfassern des Neuen Testaments vorgelegen haben oder welche Ansichten sie übernommen oder sogar gestützt hätten. Dennoch können wir sagen, dass zu ihren wichtigsten Einflüssen die Schriften Israels (das Alte Testament) zählten, die sich auf die menschliche Person in einem ganzheitlichen Sinne beziehen.
Anders ausgedrückt: Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass das Neue Testament (oder die Bibel insgesamt) in seinem Verständnis der menschlichen Person lediglich deshalb dualistisch ist, weil die christliche theologische Tradition bestrebt war, es nur auf diese eine Weise zu interpretieren. Tatsächlich gibt es klare Anzeichen für die Annahme, dass die christliche Tradition bei dieser Kernfrage eher von der sich entfaltenden platonischen Tradition beeinflusst wurde als von der Bibel. Wie im Fall von Kopernikus und Galilei geht es auch hier weniger um die Frage Bibel versus Wissenschaft, sondern vielmehr um das Thema Wissenschaft versus Wissenschaft.
Wissenschaft in der Bibel
Die biblischen Texte gehen von der »Wissenschaft« babylonischer, ägyptischer oder griechischer Gelehrter aus, die Verfahren betrieben, die uns heute seltsam vorkämen. Die Völker des Altertums konnten nicht in der Sprache reden oder die Begriffe gebrauchen, die wir heute in der modernen Wissenschaft verwenden, doch macht sie das nicht weniger »wissenschaftlich«. Es bedeutet nur, dass biblische Gestalten und Autoren der Bibel die wissenschaftlichen Erkenntnisse nutzten, die ihnen zu ihrer Zeit zur Verfügung standen, um etwas über Gott und das Leben im Angesicht Gottes auszusagen.
Bei Lukas 11 gibt es für dieses Phänomen ein interessantes Beispiel – in einem Text, der in seiner Anlehnung an antike Wissenschaft eine Herausforderung für moderne Bibelausleger darstellt. Dem Lukas-Evangelium zufolge lehrte Jesus:
Dein Auge gibt dem Körper Licht. Wenn dein Auge gesund ist, dann wird auch dein ganzer Körper hell sein. Wenn es aber krank ist, dann wird dein Körper finster sein. Achte also darauf, dass in dir nicht Finsternis statt Licht ist. Wenn dein ganzer Körper von Licht erfüllt und nichts Finsteres in ihm ist, dann wird er so hell sein, wie wenn die Lampe dich mit ihrem Schein beleuchtet.
Lukas 11,34–36
»Wenn dein Auge gesund ist, dann wird auch dein ganzer Körper hell sein …« Was mag das wohl bedeuten? Auf der einen Ebene erkennen wir, wie sich die Botschaft Jesu den bekannten Sprachgebrauch von Finsternis und Licht, von Sehkraft und Blindheit als Metapher für Erlösung, Erkenntnis und moralisches Leben zunutze macht. An anderer Stelle hat Paulus beispielsweise den Auftrag, »Ohren zu öffnen« und Menschen »von der Finsternis zum Licht« zu bekehren (Apostelgeschichte 26,18). Doch diese Beobachtung behandelt dennoch nicht das vorrangige Problem, mit dem uns dieser Text konfrontiert. Wir müssen vielmehr wissen, dass bei einem bedeutenden Zweig der römischen Augenheilkunde im 1. Jahrhundert die Augen als Tunnel betrachtet wurden, durch die das körpereigene Licht den Leib verlässt. Diese Ansicht wurde als »Extramission« bezeichnet – im Gegensatz zur »Intermission«, bei der das Auge Strahlen empfängt und die als erste Phase bei der Verarbeitung visueller Reize dient. Platon (4. Jahrhundert vor Christus) und Galen (2. Jahrhundert nach Christus) gehörten zu denen, die eine Theorie der Extramission befürworteten, während Aristoteles (4. Jahrhundert vor Christus) ein Vertreter derer ist, die diese Meinung für höchst unglaubwürdig hielten und stattdessen die Intermission favorisierten.
Querschnitt durch das menschliche Auge © © Alamy/ PHOTOTAKE Inc.
Bei der Extramission verhält sich das Auge wie ein Blitzlicht. Ein gutes Auge sendet gutes Licht aus, wohingegen ein schlechtes Auge schlechtes Licht aussendet (oder überhaupt kein Licht). Nach dieser Physiologie bestimmt die Aussage Jesu »Dein Auge gibt dem Körper Licht« die Augen insofern als Quellen von Licht, als sie das Licht des Leibes nach außen hinleiten. Die entscheidende Frage ist dann aber, ob die Augen krank oder gesund sind, denn das sagt uns, ob ein Mensch voll der Finsternis oder voll des Lichts ist. Indem Jesus die metaphorische Verwendung von Augen und Licht für das moralische
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