Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
rot aufgemalten Kreuzen; ein anderer war offensichtlich die mobile Aufnahmestation irgendeines Rundfunksenders. Es herrschte beträchtliche Aktivität, und Mizzi hörte Englisch, Französisch und mehrere skandinavische Sprachen, während sie rasch durch die schlafende Stadt schritt. Bald erreichte sie den Punkt, wo die Hauptstraße das Städtchen durchschnitt, und dort fand sie den unvermeidlichen Wegweiser, der in einer Richtung nach Wien, in der anderen zur Grenze zeigte. Sie spähte nach der beleuchteten elektrischen Uhr, die über einem geschlossenen Café hing. Es war vier Uhr einundzwanzig. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Tapfer lenkte sie ihre Schritte zur ungarischen Grenze. Es gab keine Dämmerung an diesem Tag. Verwirrte Hähne krähten mit schwacher Überzeugungskraft über das öde Land. Plötzlich blendeten Scheinwerfer sie. Sie kullerte in einen Graben. Das Auto raste vorbei und bespritzte sie mit einem Schauer gefrorenen Schlamms. Es war ein österreichisches Militärfahrzeug. Fluchend erhob sie sich, und ohne der Tatsache zu achten, daß sie durchnäßt war, stapfte sie entschlossen weiter. Bald wurden ein paar schwarze Gestalten auf der Straße vor ihr sichtbar. Sie versteckte sich hinter einem Gebüsch und wartete, und weil sie warten mußte, fing sie an zu zittern. Ihre Zähne ratterten wie ein Maschinengewehr, und sie hielt sich die Hand vor den Mund, überzeugt, daß das Geräusch meilenweit zu hören sei. Die düstere kleine Prozession schritt vorbei – vier bis fünf Männer, mehrere Frauen, ein weinendes Kind, ein Karren. Sie sprachen Ungarisch. Als sie verschwunden waren, setzte Mizzi ihre Wanderung fort. Sie hörte Schüsse, und dann das Bellen von Hunden. Nicht das ziellose Gebell irgendeines bäuerlichen Hofwächters, sondern diszipliniertere Laute, das tiefkehlige, beängstigende Grollen mehrerer großer Hunde von gleicher Rasse. Die Grenze. Sie bog von der Hauptstraße ab und marschierte eine gelbe Karrenspur entlang. Etwa nach einer Meile kam sie auf ein sumpfiges Feld, das sie halb stürzend, halb stolpernd überquerte, wobei sie sich parallel zur Hauptstraße hielt. Es wurde unangenehm hell. Das Feld ging in eine scheinbar endlose Wiese über. Plötzlich, in einem Gehölz, stand sie vor einem seichten, vom Regen angeschwollenen Bach, der rasch dahinfloß und heftige Wasserwirbel um aufragende Felsbrocken bildete. Kopflos stürzte sie sich hinein, stolperte, stürzte und erreichte das andere Ufer, eine Böschung, die ins Ungewisse führte. Mit Tränen der Panik in den Augen kämpfte sie sich einen Kilometer am Ufer entlang, bis sie einen sanften Pfad erreichte, der den jähen Hang hinaufführte. Stöhnend vor Erschöpfung, kletterte sie langsam hinauf, nur um oben vor einem Stacheldrahtverhau zu stehen.
Jetzt konnte sie nicht mehr aufgeben. Sie zog ihren Mantel aus und legte ihn über den Draht. Dann versuchte sie hinüberzukriechen. Immer wieder mußte sie sich zurückziehen, während die grausamen Stacheln ihr in die Haut schnitten. Sie verlor die Geduld und trat auf die Rolle, aber dabei schnellte ihr der übrige Draht entgegen. Sie weigerte sich zurückzuweichen. Kniend, fallend, rollend, zwängte sie sich hindurch. Ihre Beine und Hände bluteten, aber sie war drüben.
Nach einer Atempause marschierte sie am Stacheldrahtverhau entlang, am Ostufer des Baches, wo das Gelände hoch und fest war. Sie wollte zurück zur Hauptstraße. Endlich sah sie ein kleines Haus, mit Fahnenmast daneben, und einen rotweißgrünen Schlagbaum, flott gestreift wie die Ladenreklame eines Friseurs. Während sie sich dem Haus näherte, hörte sie drinnen Anzeichen eines Tumults. Ein paar Leichen, die achtlos am Straßenrand lagen, konnten sie nicht beruhigen. Sie hielt inne, und dabei merkte sie, wie ihre Wunden schmerzten. Sie betrat die Zollbaracke.
Ein paar zu Tode erschrockene Bauern standen herum, während ein grimmiger Mann in der Uniform eines Majors der Staatssicherheit auf und ab ging, mit Papieren herumfuchtelte und brüllte. Seine Augen und sein Schnurrbart waren so schwarz, daß sie mineralisch blau schimmerten. Hinter ihm standen zwei Zollbeamte in einer Haltung des Schreckens und stummen Protests.
»Wir haben heute morgen schon acht von den Schweinen erschossen!« brüllte der Major. »Ihr seid sechs. Das macht vierzehn vor dem Frühstück. Gute Ausbeute an faschistischen Hyänen, nach allen Richtlinien!« Plötzlich entdeckte er Mizzi.
»Wer sind Sie?« schrie er und fuhr fort, ohne
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