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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Ustinov
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Richtung zielte, dachte sie schnell an den Tod ihres Vaters und begann ausgiebig zu weinen, ohne zuzulassen, daß ihre Tränen auch nur einen Moment ihre Stimme oder ihren Atem beeinträchtigten.
    Als der Auftritt endete, gab es stürmischen Applaus. Der Photograph kniete neben ihr.
    »Das war einfach riesig«, sagte er. »Mein Name ist Cy Endhouse, vom >Be-Magazine<. War das nicht der Schlager Deine Stimme ist wie eine Symphonie?«
    »Ja«, sagte Mizzi spröde.
    Cy kramte in seinen Erinnerungen. »War das nicht aus Liebe im Zigeunerwagen?«
    »War es. Ja.«
    »Sang dieses Lied in New York nicht – «
    »Mizzi Somlos«, unterbrach sie. Es wäre zu peinlich gewesen, hätte er sich geirrt.
    »Jaja. Jaja. Richtig. Mizzi Somlos. Was ist überhaupt aus ihr geworden?«
    »Ich bin Mizzi Somlos«, sagte sie mit unermeßlicher Wehmut.
    »Sie! Aber, wieso – warum sind Sie hier?«
    »Ich habe die Freiheit gewählt«, antwortete sie mit fatalistischem Schulterzucken und fügte hinzu: »Sie wollten mich nicht singen lassen, aus politischen Gründen.« Die nächste Nummer des »Be-Magazines« brachte ein ganzseitiges Photo von Mizzi, brillant aufgenommen aus ungewöhnlicher Perspektive und untertitelt: »Die Stimme der Freiheit«. Für dieses Bild erhielt Cy Endhouse schließlich den Pulitzerpreis für Photographie, und zwar verdientermaßen. Eine Woche später empfing Lajos folgenden Brief:
    Liebster Träumer,
    ich bin in Wien, nach vielen unglaublichen Abenteuern aus Ungarn geflüchtet. Ich will Dir alles erzählen, wenn wir uns wiedersehen. Ich warte hier darauf, nach Amerika zu fahren, und ich habe Deinen Namen als Bürgen angegeben. Ich werde natürlich als Flüchtling kommen. Aber, mein süßer Lajos, Liebster meiner Jugend, in bin in schrecklichen Schwierigkeiten, und Du mußt mir helfen, wie Du allein es kannst. Infolge des Bildes von mir, das im »Be-Magazine« erschien, habe ich die Geschichte meines Lebens unter den Kommunisten, die mich am Singen hinderten, weil mein Vater ein Großgrundbesitzer war, für 100.000 Dollar an den Film verkauft. Bitte, mein Herzliebster, laß mich nicht im Stich. Träume, wie Du es einst so wundervoll konntest, und schreibe unverzüglich die Geschichte meines Lebens auf. Ich weiß, ich kann Dir vertrauen, wie immer.
    Stets Deine kleine Gans MIZZI
    Der Brief erreichte Lajos, als er in seinem Bett im Krankenhaus saß, nach einem totalen Nervenzusammenbruch infolge seines Schuldgefühls wegen Mizzis mutmaßlichen Selbstmordes. Bevor er einen unerwarteten Rückfall erlitt, hatte er eben noch Zeit, sich zu überlegen, daß für einige seltene, unmögliche, gefährliche und undurchschaubare Menschen das Leben, alles in allem, eine Operette ist und nie etwas anderes sein kann.

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
    Um diese Geschichte ganz zu verstehen, braucht man praktische Kenntnisse der Gewerkschaftsbewegung in Italien. Da es keinen Italiener gibt, der diese Kenntnisse besäße, kann es wohl sein, daß die Geschichte unverständlich bleibt, und doch kommt meist Gott in solchen Fällen zu Hilfe und bringt eine wenn auch vielleicht rudimentäre Ordnung in ein Chaos, daß zunächst allumfassend schien.
    Ich habe in meinem Leben viele Götter gesehen. Es gibt einen russischen Gott mit mahnend erhobenem Finger und braunen Augen von Mißbilligung, ein Terrakotta-Phantom mit einer Beziehung zu steifen Gesängen, Gerüchen der Erde, feuchten Klöstern und Weihrauch, mit glitzernden Goldspuren an den Rändern; es gibt einen anglikanischen Gott, vernünftiger und weniger theatralisch, das Opfer eines tragischen Justizirrtums, bei dem sein einziger Sohn mit einem Rechtssystem in Konflikt geriet, das keinen der Vorzüge britischer Gelehrsamkeit auf dem Gebiet der Jurisprudenz aufwies, ein außergewöhnlich verständnisvoller und zurückhaltend trauriger Gott, angebetet mit einer Inbrunst, die, wenngleich merkwürdig zwanglos, deshalb nicht weniger feierlich ist; es gibt einen Gott von Hollywood, nur von hinten zu sehen in der Gestalt Christi, oder als beunruhigendes Beben an einem Himmel, zu tiefblau, um wahr zu sein, eine Erscheinung, die römische Peitschen mitten im Schlag verharren läßt, die mißbilligendes Runzeln auf die Stirnen von Prokuratoren und Centurionen zaubert, während sie sich zu im voraus verlorenen Schlachten rüsten, das Zeichen zum Einsatz für eine Hundertschaft weiblicher Stimmen, sich in verzücktem Hymnus bis an die Grenze ihrer Tonskala emporzuschwingen, begleitet von den

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