Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
antwortete sie in genau demselben Ton wie vorher.
Es entstand eine Pause.
»Das Leben ist keine Operette«, erklärte sie leidenschaftslos. »Du hast keine Ahnung, wie du mich verletzt hast, als du das sagtest.«
»Ich, dich verletzt? Wieso? Ich muß zugeben, ich war sehr wütend.«
»Wütend? Ich bin oft wütend gewesen. Das ist gar nichts. Aber verletzt zu werden, das kann ein Leben lang vorhalten. Du erlaubtest mir zu träumen, als ich jung war. Du wußtest es, nicht wahr? Wie grausam du warst, wie grausam.« Ihre grüblerische Ruhe war viel beunruhigender als die Wutanfälle der Vergangenheit. Mit zitternden Händen wusch er das Geschirr und ging. Vielleicht war sie abgeklärter, aber sie wurde allmählich verrückt.
Die ungarische Revolution brach 1956 aus. Lajos hörte die Nachricht, hatte aber den Abenddienst vor sich, und es wurde Mitternacht, bevor er auf Mizzis Zimmer eilen konnte. Es schimmerte kein Licht unter der Tür. Er klopfte, ohne Antwort zu bekommen. Er drückte die Klinke herunter. Die Tür war offen. Das Zimmer war leer. Es sah aus, als sei es geplündert worden. Ihre Schmuckschatulle war und leer und lag am Boden. Alte Briefschaften waren überall im Raum verstreut. Eine Schürze lag auf dem Bett. Entsetzt schaute er sich um. Plötzlich fiel sein Blick auf einen Brief, der am Spiegel lehnte. Er war an ihn adressiert. Er riß ihn auf. Als einziges enthielt er den rätselhaften Satz: »Ist das Leben keine Operette?« Zerstreut wanderte er durch die Straßen und versuchte zu entscheiden, was er tun sollte. Er war kein Mann, der sich ohne Grund mit der Polizei einließ. Immerhin mochte dies nur ein Teil jener verrückten Rache sein, von der sie geredet hatte. Vielleicht hatte sie die Nachricht dort hinterlassen, um ihm einen tüchtigen Schreck einzujagen. Er war tief verärgert. Dann verfiel er auf die Idee, es könnte der Abschiedsbrief einer Selbstmörderin sein. Vielleicht schwamm sie jetzt schon im East River. Die Polizei würde wissen wollen, was die Botschaft bedeutete. Wie könnte er es ihnen erklären? Seine Fingerabdrücke waren überall in dem Zimmer. Falls sie etwas Unwiderrufliches getan hätte – würde er nicht verdächtigt werden? Wie sollten seine Fingerabdrücke auf den Brief gekommen sein, wenn er vorgab, nicht in dem Zimmer gewesen zu sein? Er war ein potentiell Verdächtiger, und zwischen einem Verdächtigen und einem Verbrecher liegt nur ein kleiner Schritt. Er sah sich unter den grellen Lampen der Ermittlungsbeamten, und seine Story klang immer unglaubwürdiger und zusammenhangloser. Es wäre wohl besser gewesen, zur Polizei zu gehen, und doch konnte es sein, daß er damit nur in Mizzis listige Falle tappte. Es gab keine Lösung. Er ging nach Hause und saß die ganze Nacht wach und dachte sich Alibis aus. Je weiter er sich von der Wahrheit entfernte, desto unglücklicher wurde er. Im Morgengrauen lief er hinaus und kaufte die Morgenzeitung. Nirgendwo wurde ein Selbstmord erwähnt. Er seufzte erleichtert, bis ihm der Gedanke kam, die Leiche könnte vielleicht noch nicht gefunden sein. Er war weiß wie der Tod und gelb vor Erschöpfung. Mizzi traf an diesem Abend per Flugzeug in Wien ein. Ihr amerikanischer Paß wurde gestempelt, und nach einem raschen Imbiß im Flughafen nahm sie ein Taxi zum Bahnhof. Sie war in alte Sachen gekleidet und trug keinen Schmuck, aus dem einfachen Grund, weil sie alles versetzt hatte, um die Reise möglich zu machen – die Platin- und Smaragdbrosche von Dobos, die sagte »Auf ewig«, Fürst Szent-Mihalys Anhänger aus Rubinen und Diamanten, der dasselbe besagte, und die anderen Tapferkeitsmedaillen ihrer horizontalen Siege. Auf dem Bahnhof sicherte sie sich ein Billet dritter Klasse im Personenzug nach einer Stadt, die wenige Meilen vor der ungarischen Grenze liegt. Wegen Überlastung der Strecke kroch der Zug durch die Nacht, mit häufigem Halt, während Streckenbeamte einander anbrüllten und mit bunten Laternen geheimnisvolle Muster in die Luft zeichneten. Es fing an zu regnen, nicht allmählich, sondern mit taktloser Intensität, als habe eine Brigade Flamenco-Tänzerinnen auf halber Strecke plötzlich mit ihrem Auftritt begonnen. Kurz vor vier Uhr morgens rollte der Zug endlich in den Bahnhof. Ein paar Gestalten standen auf dem Bahnsteig gegenüber, und aus ihrem Geschrei erkannte Mizzi sie als Ungarn. Eilig verließ sie den Bahnhof. Ein paar Last- und Lieferwagen standen auf dem Parkplatz; mindestens zwei waren Krankenwagen, mit großen
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