Gott wuerfelt doch 1
Dimitrios stieß die Tür zur Küche auf und
verschwand darin. Wir hörten das Klappern von Metall, wenig später das Klirren
von Geschirr. Er kam zu uns zurück, ein Tablett mit drei Kaffeetassen in der
Hand.
Wir schwiegen immer
noch; schließlich machte ich den Anfang und fragte: „Dimitrios, noch eines:
Welche Gründe, glaubst du, gibt es dafür, warum mein Vater derartige Unterlagen
zurückhalten könnte?“
Er trank mit
verkniffenen Augen einen kleinen Schluck und setzte sich neben uns in das
stachelige Gras. „Das ist schwer zu entscheiden, ob er etwas verheimlicht. Es
gibt jedoch theoretisch nur drei Möglichkeiten, deinen Vater im Verhältnis zu
den Mengele-Akten zu sehen.
Die erste: Er weiß
gar nicht, wo die Unterlagen sind. Das würde bedeuten, die Stasi hat ihn völlig
überschätzt; diese Variante würde alle weiteren Überlegungen erübrigen.
Die zweite: Er hat
die Unterlagen gefunden und deiner Mutter übergeben, um ihrer Organisation eine
schlagkräftige Geschichte zu liefern. Vielleicht arbeiten sie immer noch an der
Analyse und warten weiter ab. Aber das Warten hätte eigentlich wenig Sinn, denn
für die Organisation wäre es von Vorteil, den Fund möglichst schnell publik zu
machen, um eine Entschädigung und Anerkennung für die Betroffenen Zeit ihres
Lebens zu erreichen.
Die dritte
Möglichkeit: Dein Vater hält die Unterlagen aus ureigenen Beweggründen zurück -
na ja ... um irgendeinen Vorteil für sich selbst daraus zu schlagen.“
„Was könnte denn
ein solcher Vorteil sein?“, fragte ich.
Dimitrios sah in
seine Tasse, schwenkte sie, um die Flüssigkeit zur Seite schwappen zu lassen,
als erhoffe er sich davon, aus dem Kaffeesatz eine Antwort lesen zu können, verzog
den Mund nach unten, fuhr sich mit der Hand um die Lippen und sagte dann: „Es
könnte sein, dass er sich verspricht, wissenschaftliches Kapital aus den
Unterlagen Mengeles zu schlagen.“ Er hielt inne. Ich schüttelte zaghaft den
Kopf. „Aber“, fügte er hinzu, „das habe ich nur der Vollständigkeit halber
gesagt, es ist nur blanke Theorie und wohl unwahrscheinlich.“
Unter diesem Satz
war Dimitrios aufgestanden, sah in die Sonne und stützte seine Hände in die
Hüften. Er blinzelte und streckte sich. „Es ist schön hier in Griechenland! Ich
wäre froh, wenn ich weiterhin hier so leben könnte. Aber so lange wird es nicht
mehr dauern. Ich werde nächstes Jahr tot sein, denke ich“, sagte er gelassen.
Konrad erschrak. Er
stand auf und ging zu ihm. „Warum sagst du so was?“, fragte er Dimitrios.
„Ich habe Krebs. Er
ist nicht heilbar. Ich werde mich nicht behandeln lassen, um mein Dasein zu
verlängern. Ich will nicht unwürdig in einem weißen Bett dahinvegetieren und
von Apparaten und sterilen Schwestern überwacht werden. Wenn eine Frau an mein
Bett kommt, soll sie es freiwillig tun, und ich will sie zum Lachen bringen und
befriedigen, so wie ich es in Erinnerung habe. Auf keinen Fall will ich mich
füttern und auf die Seite drehen lassen, damit sie mir den Arsch waschen muss.“
Er deutete mit dem
Kopf auf sein Haus. „Ich will hier sterben, in der Mühle, mit einer Flasche
eisgekühltem Ouzo in der Hand!“ Dann wandte er sich an mich: „Vielleicht finden
die Genetiker bald ein Mittel gegen den Krebs.“ Er hob die Hände in die Luft. „
Tja, aber für mich wird es zu spät sein. C`est la vie. Die Welt ist nicht
unbedingt gnädig. Quod erat demonstrandum .“
Dimitrios nahm die
leeren Kaffeetassen und verschwand in den Mauern seiner Mühle. Er schloss die
Tür, ohne noch ein Wort zu sagen. Seine Art, den Abschied zu vollziehen,
beeindruckte mich, und ich verstand, dass jedes weitere Wort unrühmlicher
gewesen wäre. Er war einer der Menschen, die Grausamkeit in meine Familie
getragen hatten, doch ich achtete ihn dafür, dass er diesen Umstand nicht zu
verschleiern versucht hatte. Es war wie es war, und daran konnten auch hitzige
Worte nichts ändern.
Ich pflückte ein
Büschel Thymian und roch an den Blüten, deren Duft mich augenblicklich an Kreta
erinnerte, an jenen Urlaub, als Vater mir geschildert hatte, dass die Griechen
die ersten gewesen seien, die Kräuter kultiviert hatten. War ein solcher Mann
wie mein Vater zu so etwas fähig, dessen wir ihn jetzt zumindest verdächtigten?
In diesem Moment fiel mir auf, dass sich wohl im Laufe der Weltgeschichte
Millionen Söhne vor mir eine ähnliche Frage gestellt haben mussten. Meine Liebe
zu ihm konnte demnach kein ernst zu nehmendes Argument
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