Gott wuerfelt doch 1
es abrupt auf die unterste Treppenstufe und sah mit
verkniffenen Augen in den Himmel. „Tatsache ist, dass er nach Mengele der
Assistent von Verschuer gewesen ist. Aber niemand weiß, wo Mengeles
Aufzeichnungen jetzt sind!“
„Ich glaube dir
nicht!“, sagte Konrad ruhig. „Nein, das glaube ich dir nicht.“ Er schüttelte
den Kopf.
„Natürlich ist das
alles eine unglaubliche Geschichte, aber das sind nun mal die Fakten. Es gibt
viele Dinge auf unserer Welt, die unwahrscheinlich klingen; doch jedes Mal,
wenn wir sie erleben, müssen wir sie trotzdem akzeptieren. Unwahrscheinlichkeit
hat einen großen Rivalen: die Kontrollierbarkeit!“
„Halt endlich deine
verdammte Schnauze!“, zischte Konrad, ohnmächtig, noch einmal zuzuschlagen. Ich
gab Konrad ein Zeichen, den Alten weiterreden zu lassen. Dimitrios spürte das
und sah mich abwartend an, bis ich verhalten nickte. Er stand auf und breitete
die Hände aus. „Nehmen wir einen brasilianischen Sambatänzer: Er wirft ein
Tamburin rotierend in die Luft, lässt es auf seinen Kopf fallen und fängt es
kontrolliert auf dem ausgestreckten Zeigefinger seiner rechten Hand auf, ohne
dass es zu Boden fällt. Oder eine chinesische Artistin: Sie stützt sich mit nur
einer Hand auf eine Stuhllehne, bringt ihren gesamten Körper kontrolliert in
die Waage und bildet schließlich aus ihrem Kopf und ihren Beinen eine Rose,
ohne herunterzufallen. Oder einen belgischen Billardspieler, der mit seinem
Queue die weiße Kugel anpeilt und ihr einen kontrollierten Stoß versetzt, so
dass sie zwölfmal an einer Bande abprallt, bevor sie ihren Impuls an eine rote
Kugel abgibt, die anschließend ruhig auf die zweite rote zurollt und sie genau
mittig trifft. Das klingt alles ziemlich unwahrscheinlich, aber: das ist
unmittelbar für uns sichtbar, und daher wissen wir, es ist wahr. Das ist das
Wesen der Kontrollierbarkeit, sie versetzt in Staunen: Undurchführbarkeit ist
also nichts anderes als eine Sonderform von verpatzter Kontrollierbarkeit. All
diese Prozesse sind Vorbilder für uns gewesen, denn wir wussten stets: Nur
durch absolute Kontrollierbarkeit erreichen wir unser Ziel. Die Prozesse
geheimer Missionen finden zwar hinter verschlossenen Türen statt und sind
langfristiger. Und deshalb lassen wir uns alle täuschen, glauben nicht, dass es
so etwas gibt. Genau das aber ist das Ziel solcher Operationen: die Menschen zu
verwirren!“ Er ging zu Konrad und legte seine rechte Hand an seine Schulter. „
Dich, Konrad, haben wir dazu erzogen, so zu werden wie dein Bruder Walter,
damit du ihn ersetzen und uns eines Tages weiterhelfen könntest, indem du
unsere Kontrollierbarkeit ein Stück mehr zur Perfektion treiben würdest. Der
Aufwand dafür war groß, aber das ist der des Billardspielers eben auch. Ich
nehme zur Kenntnis, dass unsere Operation gescheitert ist und freue mich
aufrichtig darüber.“
Er wandte sich um,
blinzelte in die Sonne und sagte leise: „Ich frage mich nur, was ihr beiden
jetzt tun solltet. Denn ihr habt einen gigantischen Plan durchkreuzt. Für
unsere Stasi seid ihr zur Gefahr geworden.“
*
Schweigend stiegen
wir in den Wagen und fuhren zurück nach Spóa. Jetzt saß ich am Steuer, und es
schien mir, als sei ich der Einzige von uns, der seine Fassung bewahrte.
Dimitrios saß steif auf der Rückbank und betrachtete das Meer. Konrad hockte
zusammengesunken auf dem Beifahrersitz und schien sich aus der Welt ausgeklinkt
zu haben. Sein Blick war starr auf die Straße gerichtet, noch immer schien er
es nicht verkraftet zu haben, von Dimitrios seit Anfang an gelenkt und benutzt
worden zu sein.
Was mich betraf, so
war ich überrascht von meiner Gelassenheit. Ich verspürte keinerlei Emotionen
gegenüber dem alten Mann, denn er war nur mein Griechischlehrer gewesen, und
das war zu lange her, als dass ich von ihm hätte persönlich enttäuscht sein
können. Wut hatte ich vielmehr gegenüber der Machtlosigkeit empfunden, die
Vergangenheit unserer Mutter und ihrer Schwester nicht korrigieren zu können.
Wesentlich mehr
beschäftigte mich jetzt jedoch die Frage, die sich um Vater rankte wie die
Giftschlange um den Aesculapstab. Hatte mein Vater Zugang zu den
Mengele-Unterlagen gehabt?
Die Straße war
durch die Hitze noch staubiger geworden. Wir hinterließen weit sichtbar eine
bräunliche Wolke, die uns bis Spóa verfolgte. Als wir bei den Mühlen anlangten,
hatte Konrad sich wieder unter Kontrolle. Wir setzten uns auf die großen
flachen Steine vor dem Haus.
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