Gottes blutiger Himmel
ihr Traumritter wurde, der alle ihre Hoffnungen erfüllen sollte. Ihre größte Angst war, dass sie einer verpassten Gelegenheit nachtrauern könnte. Ich sagte zu ihr: »Das Leben darf dich nicht noch einmal dazu zwingen, unbedacht etwas so Dauerhaftes wie eine Ehe einzugehen.« — »Das Leben fegt mich hinweg«, war ihre Antwort. Sie habe Angst vor den Depressionen der Wechseljahre. »Depressionen sollte es in gar keinem Alter geben«, gab ich zurück. »Das Leben fängt immer dann neu an, wenn wir es wollen.«
In Wirklichkeit glaubte ich das selbst nicht. Ich wusste oft nicht, was mir mein Leben noch bedeutete, nachdem ich meine großen Hoffnungen hatte fahrenlassen. Aber es ließ mich auch nicht los. Immer wieder fühlte ich einen undeutlichen Antrieb weiterzumachen, aber mir fehlte die Überzeugung. Ich benahm mich unsicher und zögerlich, weil das mein Gewissen am wenigsten belastete und weil es mir besser schien, als mich dem Zeitalter der Heuchelei zu ergeben.
Sana war in einer glücklicheren Position als ich. Sie konnte sich in das Schreiben von Gedichten flüchten und sich dadurch etwas schaffen, was ihr in dieser Zeit des Übergangs fehlte. Ich bestärkte sie darin, weiterzudichten, um so die Tiefen ihres Lebens auszuloten, statt sich an neue Illusionen zu klammern und falschen Hoffnungen hinzugeben. Je ernsthafter sie das Dichten betrieb, desto mehr hatte sie zu tun, und es half ihr dabei, in Ruhe nachzusinnen, bis sie schließlich davon Abstand nahm, erneut zu heiraten. Die Poesie war ihre Alternative, denn sie bedeutete ihr Freiheit. Tatsächlich gab sie ihr die Möglichkeit, sich selbst zu finden.
Aber ich leugne nicht, dass auch sie mir half, meine Krise nach der Trennung von meiner Frau leichter zu ertragen. Wirkurierten gegenseitig unsere Wunden und halfen uns, ohne dass ich meinerseits daran dachte, Sana oder sonst wen zu heiraten. Ich war von dem Gefühl beherrscht, alt geworden zu sein, und auch unsere Beziehung war nicht so schwungvoll, dass sie meine Vergangenheit einfach hinweggefegt hätte. Mein politisches und moralisches Scheitern hatte mich dahin gebracht, Politik und Moral zu meiden, und obgleich ich noch einen Rest Lebenslust besaß, hatte ich dennoch das Gefühl, nicht wirklich zu leben. Und so nahm unsere Freundschaft einen ziellosen und beschaulichen Verlauf, wir trafen uns unregelmäßig mit vielen Unterbrechungen, ohne dass unsere Beziehung einen Wandel erfuhr. Wir blieben auf der Hut vor überbordenden Gefühlen, mit denen wir uns womöglich noch einmal in etwas verstricken würden wie das, wovon wir uns gerade befreit hatten. Dass jeder von uns damals geheiratet hatte, konnte man noch damit rechtfertigen, dass wir blind vor Liebe waren, aber was sollten wir jetzt sagen? Wir waren im Übermaß klarsichtig und nüchtern und geradezu krank davon. Die Gelassenheit, mit der wir uns zueinander hingezogen fühlten, ließ mich hoffen, ich hätte mich vom Joch der Emotionen befreit. Ich spürte keinerlei Bedürfnis nach einem heiligen oder unheiligen Bund. Aber obwohl ich versuchte, eine Distanz zwischen uns aufrechtzuerhalten, wurde diese allmählich immer geringer, und so tat ich, ohne es zu bemerken, erste Schritte hin zu einer Beziehung, die langsam Liebescharakter annahm.
Ich eröffnete Sana in aller Freundlichkeit, wie sehr sie mir gefiel, und sprach von meiner Hoffnung, dass unsere Beziehung weitergehen und intensiver werden möge. Ich schlug vor, uns öfter zu treffen, um uns besser kennenzulernen, und ihr gefiel die Idee. Erst spät begriff ich, dass ich eine sehr elegante und von der Art her recht bürgerliche Liebesgeschichteerlebte. Alles war vorgezeichnet und mit Vorbehalt berechnet, ganz im Gegensatz zu der Zeit, als ich noch links war. Aus tatsächlichen und vermeintlichen Hindernissen errichtete ich nach wie vor eine Mauer zwischen uns, die nicht leicht zu überwinden war. Das Eheleben hatte ich hinter mir gelassen, und es musste schon etwas sehr Ermutigendes passieren, dass ich es noch einmal ausprobierte. Ich glaubte, wenn ich nur die üblichen Verliebtheitsphasen übersprang, würden mir die Gefühle nicht viel anhaben können. Dass ich in einer anderen Richtung unterwegs war, bemerkte ich erst, als ich unter für mein Alter gänzlich untypischen Liebessymptomen zu leiden begann. Diese äußerten sich in verzehrender Sehnsucht und Schlaflosigkeit sowie Sorge um die Geliebte. Ich beschloss, einen Rückzieher zu machen, tat es aber nicht.
Ob das ein Fehler war?
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