Gottes Gehirn
Schmidt-Schönbein und machte eine beschwichtigende Handbewegung.
„Ich dachte, du wüsstest es.“
„Ich wüsste – was?!“
„Kranich ist heute Nacht gestorben.“
Troller starrte den anderen fassungslos an.
„Woran?“, brachte er schließlich heraus.
Schmidt-Schönbein zuckte mit den Achseln: „Ich hab nur die dpa-Meldung gelesen.“
Die dpa-Meldung. Er hatte heute die Meldungen nicht gelesen. Abrupt ließ er Schmidt-Schönbein stehen und rannte zum Ausgang. Während er im Fahrstuhl stand, überschlugen sich seine Gedanken. Wieso war Kranich tot? Er hatte doch gestern mit ihm gesprochen, seinen Vortrag gehört. Dann war Kranich nicht zu ihrer Verabredung gekommen. Er hatte ihm etwas Wichtiges mitteilen wollen, etwas, das mit Eklunds Tod zusammenhing. Seine Stimme am Telefon hatte geklungen, als hätte er vor irgendetwas Angst gehabt. Aber vor was? Vor wem?
Er hastete in sein Büro, warf den Computer an und rief im Internet die Seite mit den neuesten Agenturmeldungen auf. Dann las er:
Zukunftsforscher tot aufgefunden
Der Zukunftsforscher Ralph G. Kranich ist tot. Der 47-jährige international renommierte Professor für Futorologie starb gestern unter noch ungeklärten Umständen in Berlin.
Ein Polizeisprecher teilte mit, die Leiche des Wissenschaftlers sei gestern von zwei Spaziergängern gegen 23.30 Uhr unter einer Brücke am Landwehrkanal gefunden wurden. Die 18- und 21-jährigen Augenzeugen hätten angegeben, sie hätten den Toten zunächst für einen schlafenden Obdachlosen gehalten, so der Polizeisprecher weiter.
Die Todesumstände des Zukunftsforschers geben der Polizei allerdings Rätsel auf. Nur wenige Stunden vor seinem Tod hielt der Wissenschaftler einen Vortrag in der Urania, die sich in der Nähe des Leichenfundortes befindet. Ein Raubmord, so der Polizeisprecher, könne ausgeschlossen werden. Der Tote habe Kreditkarte, Scheckheft und eine größere Summe Bargeld bei sich getragen. Auch sonst wurden an dem Toten nach Polizeiangaben keinerlei Zeichen äußerer Gewaltanwendung festgestellt. Aufschluss über die noch ungeklärte Todesursache soll jetzt eine Obduktion bringen. Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen über nommen.
Kranich gehörte zu den bekanntesten und umstrittensten europ ä ischen Zukunftsforschern. Aufsehen erregte der Wissenschaftler in den vergangenen Jahren vor allem durch seine Forschungen zur künstlichen Intelligenz. Seit 1991 hatte er eine Professur an der Freien Universität (FU) Berlin. Der Präsident der FU zeigte sich tief bestürzt über den Tod Kranichs: „ W ir verlieren nicht nur einen uns erer klügsten Köpfe, sondern auch einen geschätzten Kollegen und guten Freund.“ Einen Selbstmord Kranichs könne er sich nicht vorstellen.
Die Polizei sucht jetzt nach Zeugen, die den Wissenschaftler gestern zwischen 21.00 und 23.00 Uhr in Berlin gesehen haben.
Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. (dpa)
Kranich war also wirklich tot. Oder war es ein Irrtum, eine Falschmeldung? Wie betäubt stellte Toller den Drucker an und gab den Befehl, die Seite auszudrucken. Als er das Papier in den Händen hielt, las er die Meldung noch einmal durch, als könne er etwas entdecken, das auf dem Monitor noch nicht zu sehen gewesen war. Irgendeine Information, die er übersehen hatte. Aber da war nichts. Kranich war tot.
Wieso war er nach seinem Vortrag nicht ins Restaurant gekommen? Wieso war er an den Landwehrkanal gegangen? Hatten die beiden Ausländer etwas damit zu tun, der Asiat und der Clint-Eastwood-Typ? War Kranich mit ihnen zusammen an den Kanal gegangen oder allein?
Es gab keine Antworten. Noch nicht einmal die Todesursache stand fest. Er musste die Obduktion abwarten. Er musste sich beruhigen.
Aber er fand keine Ruhe. Ein Gedanke, der ihm schon durch den Kopf geschossen war, als Schmidt-Schönbein gesagt hatte, Kranich sei tot, nahm nun ganz und gar von ihm Besitz. Kranich war ermordet worden. Troller war sich plötzlich ganz sicher. Sein Tod musste im Zusammenhang mit dem Anruf stehen. Er hatte ihm etwas über Eklund erzählen wollen, aber nicht am Telefon. Was für eine Verbindung gab es zwischen den beiden?
Als Troller aufstand, spürte er, wie seine Knie weich wurden. Er hielt sich am Stuhl fest und blieb einen Augenblick stehen. Dann ging er in die kleine Teeküche auf dem Gang, nahm ein Glas, goss sich Wasser ein und trank es in einem Zug aus. Sein Herz hämmerte. Seine Zunge fühlte sich immer noch trocken an. Er trank ein zweites
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