Gottes Gehirn
reden mit ihr? Sie haben doch immer ein gutes Verhältnis zu ihr gehabt.“
„Ja“, sagte die alte Dame, und ein glückliches Lächeln huschte über ihre rechte Gesichtshälfte, „ja, das ist eine gute Idee, das werde ich tun.“
„Ich habe hier übrigens zwei Gäste aus Deutschland, die sich unsere Klinik anschauen“, sagte Marconi. „Mr. Troller und Mrs. . . .“
„Miss!“ unterbrach Jane und rückte ihr graues Kostüm zurecht.
„Verzeihung, Miss Anderson. Sie sind Journalisten und interessieren sich für unsere Forschung. Ich habe den beiden erzählt, dass wir mit Ihrer Lähmung zurechtkommen wollen . . .“
„Mit was für einer Lähmung?“
„Aber ich bitte Sie, Wilma, wir haben das doch schon hundertmal besprochen.“
„Sie wollen mir da etwas einreden, Doktor“, sagte die Dame, „und ich weiß nicht warum.“
„Versuchen wir es noch mal, Wilma“, sagte Marconi. „Würden Sie bitte mit dem rechten Finger auf meine Nase zeigen?“
„Aber bitte“, sagte die Patientin. „Man hat mir zwar früher beigebracht, dass man nicht mit dem nackten Finger auf angezogene Leute zeigen soll, aber wenn Sie es mir befehlen . . .“
Sie streckte den rechten Arm aus und zeigte mit dem Finger auf Marconis Nase. „Danke, Wilma. Und nun mit der anderen Hand. Würden Sie bitte mit dem linken Finger auf meine Nase zeigen?“
„Ich finde dieses Spiel immer etwas langweilig“, sagte Wilma, „aber wenn Sie es wünschen, bitte. Sind Sie jetzt zufrieden?“
Wilmas linker Arm hatte sich nicht bewegt. Er hing gelähmt nach unten. Kein Finger zeigte auf Marconi.
„Sie zeigen jetzt mit dem linken Finger auf meine Nase?“, fragte Marconi.
„Aber ja.“
„Können Sie klar sehen, wie Sie zeigen?“
„Natürlich, mein Finger ist ungefähr zehn Zentimeter von Ihrer Nase entfernt.“
„Schön“, sagte Marconi. „Und nun, wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, klatschen Sie in die Hände.“
„Gern.“
Die alte Dame fuhr mit der rechten Hand durch die Luft, als würde sie gegen die linke klatschen. Aber die linke Hand machte nicht mit.
„Klatschen Sie?“
„Das sehen Sie doch.“
„Danke, Wilma“, sagte Marconi. „Wir müssen jetzt weiter. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
Sie verließen den Raum und fuhren wieder nach unten.
„Anosognosie“, sagte Marconi, als sie wieder in seinem Büro waren.
„Ano – what?“, fragte Jane.
„A heißt nicht, nosos heißt Krankheit, gnosis heißt Wissen“, sagte Marconi.
„Nix-Krankheit-Wissen“, sagte Troller.
„Danke“, sagte Jane und notierte sich das Wort auf ihrem Collegeblock.
„Wilma ist völlig normal“, sagte Marconi, „auch wenn sie vielleicht ein bisschen überbesorgt wegen ihrer Enkelin ist. Aber auch das ist normal. Nur von ihrer Krankheit weiß sie nichts. Da macht ihr das Gehirn was vor. Und warum? Weil es vom Körper nicht mehr die nötigen Informationen bekommt. Das Gehirn spinnt – es spinnt sich was zusammen, weil es nicht weiß, was da unten vorgeht. Ich könnte Ihnen noch mehr solcher Patienten zeigen. Wir haben zum Beispiel einen, der alles, was links ist, nicht mehr wahrnehmen kann. Ein Hirnschlag, eine kleine Blutung im hinteren Teil der rechten Großhirnhälfte, Lähmung der linken Körperhälfte wie bei unserer Wilma – und auf einmal ist die linke Seite der Welt verschwunden. Wenn er sich rasiert, rasiert er nur die rechte Gesichtshälfte. Wenn er sich wäscht, wäscht er sich nur rechts. Wenn er sich Socken anzieht, zieht er nur den rechten an. Und so weiter.“
„Bedauerlich“, sagte Jane. „Aber was hat das mit Lansky zu tun. Ich meine, mit der künstlichen Intelligenz?“
„Der Körper denkt mit“, wiederholte Marconi mit leichter Ungeduld in der Stimme. „Lansky dagegen glaubte – und seine KI-Kollegen glauben es weiterhin –, dass das Denken nach Art eines Computerprogramms abläuft. Dass das Gehirn modular, also hierarchisch organisiert ist. Dass das Ich, das Selbst, an irgendeiner zentralen Stelle sitzt, so wie Descartes es vor vierhundert Jahren gedacht hat. Aber so ist es nicht. Der Geist sitzt nicht nur im Gehirn, er sitzt überall. Das Ich ist nicht irgendein Zentrum, es ist das Ganze in seiner ungeheuren Komplexität.“
„Faszinierend“, sagte Troller. „Aber so ganz habe ich die Sache noch nicht verstanden. Diese Dame, Wilma, ist linksseitig gelähmt. Das bedeutet vermutlich, die rechte Gehirnhälfte ist lädiert. Richtig?“
„Richtig.“
„Dann ist das doch einfach ein technischer Defekt. Der
Weitere Kostenlose Bücher