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Gottes Gehirn

Gottes Gehirn

Titel: Gottes Gehirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Johler , Olaf-Axel Burow
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Berechtigung. Wenn Sie zu einem Physiker gehen, dann wird er Ihnen erklären, dass die Welt aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt ist, aus Quanten, Quarks, Neutrinos oder Strings. Gehen Sie zu einem Chemiker, so wird er alles auf chemische Elemente, Verbindungen und Reaktionen reduzieren. Gehen Sie zu einem KI-Forscher, so sagt er Ihnen, am Anfang waren Bits und Bytes. Und wenn Sie zu einem Neurophysiologen gehen, so sagt er, am Anfang war das Neuron. Wer ist denn nun der richtige Reduktionist? Das ist es doch, was Jane mit ihrer Frage meinte. Stimmt’s?“
„Ich hatte es nur etwas kürzer ausdrücken wollen“, sagte Jane und blinzelte Marconi durch ihre türkisfarbene Brille hindurch an. Marconi lächelte. „Entschuldigen Sie“, sagte er. „Sie haben recht. Wir alle sind Reduktionisten. Aber jeder ist es auf seine Art. Ich bin Neurologe, also denke ich, dass Bewusstsein vor allem ein neurologisches Problem ist. Ich bin allerdings nicht so vernagelt, dass ich nicht wusste, wie sehr wir auch auf andere Disziplinen angewiesen sind, sogar auf die Sozialwissenschaften. Es ist ja beim Menschen so, dass sein Gehirn bei der Geburt noch lange nicht voll ausgebildet ist. Es gibt bei der Geburt – rein anatomisch gesehen – einen Engpass.“
    „Das weibliche Becken?“ Marconi nickte. „Schimpansen- und Menschenbabys kommen etwa mit dem gleichen Hirnvolumen zur Welt, aber während die Hirnentwicklung des jungen Affen bei der Geburt nahezu abgeschlossen ist, kommt es beim menschlichen Säugling zu einer geradezu explosionsartigen Ausdehnung! Das Hirnvolumen eines Vierjährigen hat sich seit seiner Geburt verdreifacht! Danach wächst es zwar langsamer, aber es wächst immer noch, bis zum zehnten, zwölften, vierzehnten Jahr! Und vor allem: Seine Struktur oder, wie wir Neurologen es nennen, seine Architektur bildet sich erst in diesen Jahren heraus. Erst wenn das Kind draußen ist. Unter dem Einfluss der Umwelt! Im sozialen Kontakt mit anderen Menschen. Bedenken Sie das! Hier liegt ja wiederum der Irrtum der Genetiker wie Jackson, die sich einbilden, sie könnten einfach intelligentere Menschen züchten. Ach was! Ich könnte Ihnen eine simple Rechnung aufmachen, die diesen Unsinn widerlegt. Was meinen Sie, wie viele Gene haben wir so ungefähr?“
    „Dreißigtausend“, sagte Troller.
„Dreißigtausend“, sagte Marconi verächtlich. „Und wie viele Neuronen sind in unserem Hirn am Werk?“
„Milliarden.“
„Milliarden“, bestätigte Marconi. „Aber entscheidend für den Geist, für die Intelligenz ist ja nicht bloß die Zahl der Neuronen, sondern die Zahl der Synapsen, also der Stecker, welche die Axonen und Dendriten, die zu Tausenden wie winzige Kabel von jedem Neuron ausgehen, miteinander verbinden. Und von diesen Synapsen haben wir?“
„Billiarden“, sagte Troller.
„Bill-i-arden“, wiederholte Marconi mit einer Miene, als hätte er sie nicht nur gezählt, sondern selber erschaffen. „Und nun erklären Sie mir bitte: Wie sollen lumpige dreißigtausend Gene eine Architektur festlegen, die aus einer Billiarde Synapsen besteht! Das Missverhältnis liegt doch auf der Hand! Nein, die Genetiker werden das Bewusstseinsproblem nicht lösen. Das können nur wir. Zwar werden, das will ich nicht bestreiten, einige Besonderheiten des Gehirnaufbaus durch die Gene festgelegt, besonders in den, von der Evolution her gesehen, älteren Teilen, aber was die neueren Hirnteile betrifft, also vor allem die Großhirnrinde, da spielen bei der Herausbildung ihrer Architektur Faktoren wie Umwelt, Erziehung, Kultur und Gesellschaft eine entscheidende Rolle.“
„Was übrigens Jackson nicht bestritten hat“, sagte Troller. „Im Gegenteil.“
„Ach ja? Dann hat er inzwischen Angst bekommen vor der öffentlichen Meinung. Aber wie auch immer: Jede Erfahrung, die das Menschenkind macht, beeinflusst die Struktur seines Gehirns. Denken Sie in Zukunft daran, wenn Sie mit Kindern zu tun haben! Sie können mit Ihren Worten Hirnstrukturen ändern! Ja, Ihre Worte können das Hirn genauso tief verletzen wie eine Ohrfeige oder ein Faustschlag.“
    „Sie müssten dann aber doch“, sagte Jane, „ein starkes Interesse an der Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften haben. An interdisziplinärer Zusammenarbeit.“
„Oh ja“, sagte Marconi. „Ich bin sogar der Ansicht, dass unsere Wissenschaft, die Neurobiologie, genau an der Nahtstelle zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sitzt. Wenn jemand diese Lücke schließen kann, dann

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