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Gottes Gehirn

Gottes Gehirn

Titel: Gottes Gehirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Johler , Olaf-Axel Burow
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KIAnhänger wurde sagen: Eine Hardware-Komponente ist ausgefallen. So what?“
„Und die Anosognosie?“, fragte Marconi. „Das Unwissen über die Krankheit?“
„Ist eben schwer, sich mit der Realität abzufinden. Das geht uns allen manchmal so.“
„Es geht den Patienten aber nur so, wenn sie linksseitig gelähmt sind“, sagte Marconi. „Bei rechtsseitig Gelähmten tritt dieses Phänomen fast nie auf. Das bedeutet, dass die Gehirnregion, die bei Wilma ausgefallen ist, für mehr verantwortlich ist als nur für die Bewegung einer Körperhälfte. Sie ist auch verantwortlich für einen Teil der Selbstwahrnehmung. Und noch etwas: Sie erinnern sich, wie angetan Wilma von der Idee war, ihre Enkelin in New York zu besuchen?“
    „Oh ja“, sagte Jane, „sie lächelte so glücklich, als Sie sie darauf brachten.“
„Sie lächelt seit einem halben Jahr so“, sagte Marconi. „Aber sie führt die Idee nicht aus. Nicht weil ihr die Mittel dazu fehlen, Wilma ist eine sehr reiche Frau. Das Problem ist nur: Sie kann sich nicht entscheiden. Und das, obwohl sie früher eine äußerst resolute Person war.“
„Und wie erklären Sie sich das?“
„Auch das liegt an der lädierten Gehirnregion. Sehen Sie jetzt, was mit unserem Hirn los ist? Es ist kein isolierter Rechner, es braucht den Körper, es braucht die Informationen des gesamten Körpers, um zu denken, zu entscheiden und sich für etwas verantwortlich zu fühlen. Wie wollen Sie zum Beispiel eine so einfache Frage wie >Wie geht es Ihnen?< beantworten, wenn der Körper Ihnen nicht sagt, wie es Ihnen geht. Da könnte das Gehirn lange rechnen, die Antwort fände es nie! Und wenn ich sage, sich für etwas verantwortlich fühlen, dann tue ich das sehr bewusst. Es ist nämlich so, dass Patienten mit bestimmten Läsionen – also Schädigungen – sowohl emotionslos als auch entscheidungsunfähig sind. Verlust der Emotion und Verlust der Entscheidungsfähigkeit, der planenden Vernunft, ja sogar der Moral gehören zusammen. Sie brauchen das Gefühl, um vorausschauend zu denken!
    Merkwürdig, nicht wahr? Wo doch seit Jahrtausenden behauptet wird, dass Gefühle das Denken behindern. Bei einem Übermaß an Emotion ist das natürlich auch der Fall, aber ohne Gefühl, ohne ein emotionales Unterfutter, wenn ich so sagen darf, kommen überhaupt keine Gedanken, Pläne, Entscheidungen zustande. Und Denken heißt ja bekanntlich auch Entscheidungen treffen, über wahr und falsch, über vernünftig und unvernünftig, über gut und böse. Nein, für mich gibt es keinen Zweifel: Das Gehirn ist der Sitz der Seele – aber die Seele ist die Seele des Körpers.“
    „Sie meinen“, sagte Troller nach einer Pause, „die Seele flattert nicht irgendwann davon?“
    „Aber ich bitte Sie“, sagte Marconi. „Ich bin Wissenschaftler. Wenn ich im Himmel nach dem Geist oder der Seele suchen würde, dann bräuchte ich keine empirischen Forschungen anzustellen. Ich bin zwar ein entschiedener Gegner des fehlgeleiteten Reduktionismus der KI-Propheten, die aus dem Gehirn eine bloße Rechenmaschine machen wollen, aber das heißt natürlich nicht, dass ich an übersinnliche Phänomene glaube. Auch ich bin Reduktionist, natürlich bin ich das, ich wäre ja verrückt, wenn ich es nicht wäre.“
„Wieso?“, fragte Jane.
„Wie bitte?“
„Wieso wären Sie verrückt, wenn Sie kein Reduktionist wären. Und was verstehen Sie überhaupt darunter? Ich meine, warum ist der Reduktionismus der KI-Forscher fehlgeleitet und Ihrer nicht?“
    „Wo bin ich?“, rief Marconi mit komischer Verzweiflung aus und warf die Arme theatralisch in die Höhe. „Mit wem hab ich es hier zu tun? Sagten Sie nicht am Telefon, Sie seien Wissenschaftsjournalisten?“
„Unser Magazin ist kein Wissenschaftsjournal im engeren Sinne“, sagte Troller und hob beruhigend die Hände. „Wir berichten über alles, was interessant ist. Aber ich finde, Jane hat ein Recht, so zu fragen.
Natürlich weiß sie, dass Reduktionisten – im Gegensatz zu den Dualisten – nicht daran glauben, dass der Geist oder die Seele irgendetwas Übernatürliches oder Immaterielles sind. Natürlich weiß sie, dass in der heutigen Scientific Community jeder sofort erledigt ist, wenn er sich nicht zum Reduktionismus bekennt. Natürlich weiß sie, dass die KI-Propheten ein – nun, sagen wir – relativ simples Verständnis von Geist, Seele und Bewusstsein haben. Aber die scheinbar naive Frage nach dem Wie und Warum des Reduktionismus hat ja durchaus ihre

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