Gottes Gehirn
dass neunzig Prozent aller Wissenschaftler, die es jemals gegeben hat, heute leben?“
„Du meinst, Quantität schlägt in Qualität um?“
„Ich meine, da klont einer ein Schaf, und während wir noch versuchen zu verstehen, was da eigentlich passiert, und irgendwelche Ethikkommissionen über neue Regeln nachdenken, kommt der nächste und klont Menschen. Oder sie experimentieren mit Gehirnteilen, und ehe wir auch nur begriffen haben, was das bedeutet, bauen sie Gehirne zusammen. Oder sie versprechen uns ein besseres Leben mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, und am Ende ersetzen sie uns durch Maschinen. Oder sie verkünden uns die Wiederauferstehung in der fernsten Zukunft und verpulvern dafür unsere Ressourcen in der Gegenwart. Politiker, Journalisten, Bürger – wir alle kommen zu spät. Wir alle sind längst ohnmächtig gegen die Macht der Forscher. Sie schaffen die Tatsachen, und wir versuchen, damit fertig zu werden. Aber wir hinken immer hinterher. Das ist der Terror der Wissenschaft.“
„Und man kann nichts dagegen tun?“
„Ich wüsste nicht, was.“
„Dann gute Nacht“, sagte Jane und erhob sich von ihrem Platz. Troller begleitete sie zu ihrem Schlafwagenabteil. Als er ihr zum Abschied die Hand geben wollte, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss. „Dieser Freund, mit dem du die Fahrt schon mal gemacht hast, war das Kranich?“, fragte Jane, als sie am nächsten Abend wieder im Speisewagen saßen.
Troller nickte.
Vierundzwanzig Stunden waren sie jetzt schon mit dem California Zephyr unterwegs, und es war noch beeindruckender als damals. Troller genoss den atemberaubenden Blick, den man aus dem Panoramawagen auf die Gipfel der Rockies hatte. Die Sonne sah merkwürdig aus. Sie wirkte wie ein aufgedunsener, schwammiger roter Ball, der an seinen Rändern zu zerfließen schien. Gerade schickte sie sich an, hinter den Gipfeln zu verschwinden. Morgen würden sie in San Francisco sein.
Troller hatte in der vergangenen Nacht zum ersten Mal seit langer Zeit fest und tief geschlafen, und insgeheim musste er Jane Recht geben. Es war gut gewesen. Sie brauchten beide ihre Kräfte. Wer wusste denn, was noch kommen würde?
Den Tag über waren sie die Gespräche mit den Wissenschaftlern und alle Ereignisse, die ihnen während ihrer Reise durch die Staaten begegnet waren, noch einmal durchgegangen. Dann hatte Jane sich
zurückgezogen, um sich noch einmal alle Kowalski-Dossiers vorzunehmen. Sie wollte sicher sein, nichts übersehen zu haben. Und dabei war sie auf etwas Merkwürdiges gestoßen.
„Auf was?“
„Ich habe die Todesdaten verglichen. Es gibt da ein Muster.“
„Was für eins?“
„Wenn man Kranich als Sonderfall herausnimmt, dann stirbt alle drei Tage ein Konferenzteilnehmer.“
„Alle drei Tage?“ Troller schaute Jane ungläubig an.
„Eklund am siebten, Freeman am zehnten, Lansky am dreizehnten . . .“
„Und der Bruder von Behrman?“, unterbrach Troller. „Der wurde am siebzehnten umgebracht. Vier Tage nach Lansky.“
„Vielleicht ist etwas dazwischengekommen. Jedenfalls gab es bei der Serie von 1998 auch diese Dreitagesabstände.“
„Woher weißt du das?“
„Von deiner Liste.“
„Aber das hätte ich doch gesehen.“
„Du hattest die Liste alphabetisch geordnet“, sagte Jane, „und dabei herausgefunden, dass es im August 1998 eine Häufung von Unfällen gab. Wenn du die Liste nach den genauen Todesdaten geordnet hättest, dann wäre dir diese Regelmäßigkeit aufgefallen.“
„Aber, das würde ja bedeuten, dass – warte mal . . .“
„Genau“, sagte Jane. „Wenn die Serie so weitergeht, dann müsste der Nächste am neunzehnten dran gewesen sein.“
„Gestern?“
„Ja.“
„In der Zeitung stand nichts davon. Hast du Kowalski kontaktiert?“
„Nein. Und ich werd’s auch nicht tun“, sagte Jane. „Ich bin sicher, sein Telefon wird abgehört, sein Computer überwacht. Außerdem hab ich mein Handy ausgeschaltet. Ich bin sicher, sowie wir unsere Handys wieder anschalten, wird man uns über Satellit anpeilen.“
„Verdammt“, sagte Troller. „Mein Handy ist noch an.“
„Ist es nicht“, sagte Jane mit einem spöttischen Lächeln und zog Trollers Handy aus ihrer Jackentasche hervor.
Das Abendessen war ebenso gut wie gestern. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Es war dunkel draußen. Manchmal sahen sie durch die Scheibe Lichter von kleineren Städten oder Ansiedlungen – dann wieder nur im Spiegel sich selbst.
„Wer mag es sein?“, sagte Jane, als sie die
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