Gottes kleiner Finger - [Thriller]
gegeben hatte. Damals, als sie noch ein Kind war.
Diese, die ursprüngliche Katharine, hatte es sicherlich auch damals noch gegeben, als sie eine junge Mutter und mit Ritchie Bergman zusammen war. Damals, als sie noch glücklich waren oder sich das zumindest einbildeten.
Unter großer Anstrengung hatte Katharine es geschafft, sich in Erinnerung zu rufen, dass ihre Schulkameraden sie einst, in einem anderen Leben, für eine faire Person gehalten hatten.
Sie erinnerte sich dunkel an eine Zeit, in der sie sich bemüht hatte, den anderen, weniger Begüterten gegenüber freundlich und mitfühlend zu sein. Konnte das tatsächlich so gewesen sein, oder handelte es sich um eine Fantasie, die sie später entwickelt hatte?
Aber hatte sie in ihrer Schulzeit nicht tatsächlich einmal den schüchternsten Jungen aus ihrer Klasse gebeten, mit ihr auszugehen, um ihm zu helfen, seine Schüchternheit zu überwinden? War das wirklich passiert, oder hatte sie es sich nur vorgestellt, irgendwann später? Wie entrückt und fremd diese alte Katharine ihr doch vorkam.
Aber die Erinnerung hatte ihr doch Kraft gegeben. Damals bin ich doch ganz in Ordnung gewesen, dachte Katharine.
Sie hatte aber auch andere, schmerzhaftere Erinnerungen. Sie dachte daran, wie sie mit Ritchie im Yosemite Nationalpark eine Wanderung gemacht hatte und wie sie in der Nacht nackt baden gegangen waren. Damals hatte Ritchie ihr gesagt, wie schön sie doch ohne Kleider sei.
Und dann noch schmerzlichere Erinnerungen, die sie nicht einmal flüchtig zulassen konnte, ohne Schmerz und Schuldgefühle zu empfinden.
Die Lichter eines entgegenkommenden Autos, die unerwartet auf ihren Fahrstreifen wechselten. Ein Krachen, Schmerz, Dunkelheit. Der Schmerz in Knien und Händen, als sie wieder zu Bewusstsein kam und begriff, dass innerhalb von Sekunden alles anders geworden war. Für immer, in unabänderlicher Weise. Dass ihr Leben ein Albtraum geworden war, aus dem sie nie wieder erwachen würde.
Zwei ihr fremde Menschen waren tot, und ihr Bruder war gelähmt wegen eines Fehlers, den sie begangen hatte. Sie hatte sich selbst gequält, indem sie die Angehörigen der Menschen traf, die bei dem Unfall ums Leben gekommen waren, und das hatte keinerlei gute Folgen gehabt. Ihren Schmerz und ihre furchtbaren Schuldgefühle hatte sie abreagiert, indem sie gegen Ritchie wütete. Sie hatte beobachtet, wie seine Miene allmählich versteinerte. Wie zuerst die Liebe und dann, etwas später, auch Mitgefühl und Mitleid aus seinem Gesicht verschwunden waren.
Das Gerichtsverfahren hatte endlos lange gedauert, und sie hatte nicht mehr die Kraft gehabt, sich für das zu interessieren, was mit ihr geschehen würde. Sie hatte sicherlich eine Strafe haben wollen in der Hoffnung, ihre Schuldgefühle würden dadurch wenigstens etwas gemildert.
Vor Gericht hatte sie sich schlecht benommen und dem Richter und den Geschworenen boshafte Dinge gesagt, und deswegen hatte sie eine längere Freiheitsstrafe bekommen als ursprünglich vorgesehen.
Im Gefängnis war es genau so schrecklich gewesen, wie sie es befürchtet hatte. Anfangs hatte sie den Kopf hochgehalten, aber als Ritchie ihr mitteilte, er werde sie verlassen, in eine andere Gegend ziehen und Rheya mitnehmen, war etwas in ihr zerbrochen. Sie fing an, zunächst dem Anführer der das Gefängnis beherrschenden Clique und später auch den Gefängniswärtern sexuelle Dienste zu leisten, einerseits, um sich selbst zu bestrafen, und andererseits, um sich so einige Erleichterungen zu verschaffen. Als sie dann entlassen wurde, war es für sie leicht und natürlich, auf diesem Weg weiterzugehen und eine Professionelle zu werden.
Die alte Katharine hatte endgültig aufgehört zu existieren. Ihre Welt war zu einer engen, klaustrophobischen Falle zusammengeschnurrt. Übrig waren nur Selbstverachtung und die Spirale von Schuld und selbstzerstörerischem Verhalten. Ein Teufelskreis, aus dem sie nicht hatte ausbrechen können. Sie hatte für sich keine andere Perspektive mehr gesehen. Es gab nichts anderes mehr.
Sie hatte die Demütigungen geradezu gesucht, als hätte sie auf diese Weise wenigstens ein Tausendstel der Schuld von sich abwaschen können, die weiterhin an ihr fraß, unaufhörlich und gnadenlos.
Dann war plötzlich alles anders geworden. Durch Lauri Nurmis unerwartete Geste war ihr früheres Leben wie abrupt zu Ende gegangen, und sie hatte ganz überraschend wieder Raum gehabt, um durchzuatmen. Sie hatte nur nicht gewusst, ob sie imstande
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