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Gottes kleiner Finger - [Thriller]

Gottes kleiner Finger - [Thriller]

Titel: Gottes kleiner Finger - [Thriller] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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sein würde, ihre neue Freiheit für etwas Sinnvolles zu nutzen. Konnte sie das schaffen? Was sollte sie tun? Wohin sollte sie sich wenden?
    Jetzt bin ich nichts, überhaupt nichts, jetzt bin ich nicht einmal eine käufliche Dirne, hatte sie in angsterfüllten Augenblicken in einer Mischung aus Panik und Verzweiflung gedacht.
    Wer bin ich denn? Was bin ich für eine Person? Was habe ich gern? Was mag ich nicht? Was erwarte ich vom Leben? Ich kann keine einzige dieser für mich wesentlichen Fragen beantworten, hatte sie gedacht, es ist, als gäbe es mich nicht. Als Individuum, als richtigen und heilen Menschen.
    Dann war ihr klar geworden, dass es genau so sein musste. Es musste so sein, weil es nicht anders sein konnte.
    Sie konnte sich nicht in die junge Frau zurückverwandeln, die sie einst gewesen war. Und der harte und kaputte Mensch, der sie noch vor einiger Zeit gewesen war, wollte sie nicht mehr sein. Sie musste sich also neu aus den Splittern ihres alten Ich und aus neuen Bestandteilen erschaffen. Sie würde eine ganz neue Katharine aus sich machen müssen. Katharine Henshaw Nummer drei.
    Sie hatte angefangen zu prüfen, ob von der ursprünglichen Katharine noch etwas übrig war unter all den harten und komplizierten Schutzhüllen, jenseits aller schlimmen Erfahrungen und all ihrer Schuld.
    Würde es möglich sein, einen Teil der alten Katharine wiederzufinden und zum Leben zu erwecken? Waren von ihr wenigstens ein paar winzig kleine Stückchen und Brösel übrig, die sie finden und bewahren wollte, die sie nähren und stärken und auf denen sie etwas ganz Neues aufbauen könnte? Sodass die entstehende Gesamtheit etwas wäre, womit sie leben könnte.
    Anfangs war das alles sehr schwierig gewesen, aber dann war ihr eines Morgens klar geworden, dass sie allmählich vorankam. Das Ergebnis war noch nicht vollkommen und in keiner Weise tauglich. Sie war in zu viele Splitter zerfallen, und das Ganze konnte nicht mehr wiederhergestellt werden. Die Teilchen fügten sich einfach nicht mehr zusammen. Wenn man sie mit Gewalt zusammenpresste, war die Kombination unklar, unbeholfen und sperrig. Dennoch war es immerhin etwas, und vor allem war es das, was sie jetzt war, und etwas Besseres brachte sie nicht zustande. Zumindest noch nicht.
    Manchmal kam es ihr so vor, als wäre da zu viel Ballast. Es gab zu viele ungute Erinnerungen, Bilder, die sie nicht aus ihrem Gedächtnis tilgen konnte. Dinge, die mit ihr geschehen waren und die sie am liebsten vergessen würde. Aber vielleicht würde sie es schaffen, einige davon einzukapseln und sie irgendwo so tief zu vergraben, dass sie mit der Zeit zu bedeutungslosen Schemen verblassen würden. Zu Geistern, die ihr Leben nicht mehr übermäßig stören würden.
    Vielleicht würden sie irgendwann aufhören, ihr Dasein zu beherrschen. Irgendwann, wenn sie sie oft genug durchdacht hatte und sie genügend Patina angesetzt hatten. Alle möglichen Dinge. Angenehmere Erinnerungen, Dinge, mit denen es leichter war zu leben. Vielleicht würde sie eines Tages sogar imstande sein, all dem, was ihr auf ihrem Weg widerfahren war, ruhig ins Auge zu sehen.
    Katharine fasste einen Beschluss. Also gut, dachte sie.
    »Du warst wohl gerade ganz weit weg«, bemerkte Razia.
    »So könnte man es sagen«, bestätigte Katharine. »Aber du wolltest hören, was ich gearbeitet habe. Wie viel Zeit hast du dafür, dass ich es dir erzähle?«
    Razia drehte sich um und sah nach der Sonne. Sie näherte sich dem Zenit.
    »Bis zum Abend«, sagte Razia. »Sechs Stunden und fünfundvierzig Minuten, bis es dunkel wird. Und im Bedarfsfall finden wir den Weg auch im Dunkeln.«
    Das war aber eine genaue Schätzung, dachte Katharine. Aber andererseits war Razia Sonneningenieurin, und ihr Vater war Zarathustra-Anhänger und Künstler gewesen, für den die Sonne eine mindestens ebenso ernste Zwangsvorstellung gewesen war wie für Razia.
    »Hast du das alles jetzt hinter dir lassen können?«, fragte Razia eine Stunde später, als Katharine ihre Erzählung beendet hatte.
    Katharine schüttelte den Kopf.
    »Nein. Überhaupt nicht. Von derartigen Dingen kommt man nicht wirklich los. Ich werde sie mit mir herumschleppen, solange ich lebe.«
    Razia sah Katharine voller Mitgefühl an und nickte still.
    »Was ist zwischen Lauri und dir?«, fragte sie dann.
    Katharine lachte.
    »Ich würde mich freuen, wenn du es mir sagen könntest.«
    »Ach, ist das so kompliziert?«
    Katharine schwieg einen Moment und sah dann Razia direkt in

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