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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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an die Stunden vor der Flucht, dann kam er sich vor wie einer, der ihn bloß darstellte, in einem Film, und der alles falsch machte und alles falsch aufsagte. Das war alles falsch gewesen, was er zu seiner Mutter und zu Julika und zu wem sonst noch gesagt hatte, alles gelogen. Er musste augenblicklich zur Wahrheit zurück. Und die Wahrheit war nicht in dieser Stadt und schon gar nicht in diesem Kaufhaus. Das war immer noch nicht er, der hier stand, sondern immer noch der Schauspieler von gestern.
    Wie ein warmer Wind aus Haut fuhr ihre Hand über sein Gesicht, strich über die Wunden und die geschwollenen Stellen, glitt über seine Nase, seine Lippen. Dann legte Julika ihren Mund auf den seinen, ohne ihn zu öffnen, und ließ ihn dort.
    Die warme Zugluft um ihn verschwand und das Gaffen der Leute. Er stand vor Julika, sehr nah, und sah alles überdeutlich, was sie tat. Und was sie tat, war unbegreiflich perfekt. Das war es, was er dachte: Dass dies ein perfekter Moment in seinem Leben war, und alles, was vorher war, existierte nicht mehr oder bloß noch als Nachspann.
    Und jetzt, während nichts passierte, außer dass Julikas Hand über sein Gesicht reiste, hätte er am liebsten etwas gesagt, hätte seine Gedanken, die ihm wichtig waren, in Worte gebracht. Doch dann dachte er, dass die Reise von Julikas Hand wahrscheinlich Stillsein verlangte, ihre Hand verscheuchte sogar die Geräusche, die Stimmen, den Autolärm und die Schritte um ihn herum.
    Und dann dachte er wieder, wie perfekt das war, wie ein Wink aus der Zukunft.
    Immer wieder musste er stehen bleiben und ein zweites Mal hinsehen. Er kratzte sich in den zerzausten Haaren, öffnete einen Spaltbreit den Mund oder presste die Lippen aufeinander, und seine Verblüffung verschwand ebenso unvermittelt, wie sie durch den Anblick von persischen Teppichen und französischen Handtaschen ausgelöst worden war. Dann folgte er Julika die nächste Rolltreppe hinauf, den Blick auf ihre Stiefel gerichtet und zugleich geblendet vom hellen Licht und den Farben, die ihn überforderten.
    »Schau!«, sagte Julika.
    Als hätte er etwas anderes tun können! Schon im zweiten Stock schwindelte ihn, als würde er sich am Schauen überfressen. Dabei war alles, was er zu sehen bekam, Kleidung, Unmengen an Kleidung, hundert Stück von einem einzigen Hemd, einer einzigen Jacke, einer einzigen Jeans. Und jetzt: tausende von Höschen und BHs. In seiner Schaunot fing Rico an zu zählen. So weit sein Blick reichte, entdeckte er noch ausgefallenere Kostüme und Blusen und Röcke, und eigentlich hätte er Lust gehabt hinzugehen und den Stoff zu berühren und daran zu riechen.
    »Das hier brauchen wir alles nicht«, sagte Julika. Sie waren im dritten Stock angelangt, wo sich die Spielwarenabteilung befand.
    »Warum nicht?«, sagte Rico. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er mit seinem Sohn Autos, Bagger und Lokomotiven testete. Und sein Sohn dürfte sich etwas aussuchen. Und sie könnten sich beide nicht entscheiden.
    »Woran denkst du?«
    »An nichts«, sagte er.
    Wieder strich sie ihm auf der Rolltreppe über die Wange. »Jetzt sind wir gleich da.«
    »Warte!«, sagte er. Er ging zu einem Fernseher in einer Nische.
    »Hundertsieben Zentimeter Breitwand«, sagte er zu niemand Bestimmtem. »Hundert Hertz. Neuntausendneunhundertneunundneunzig Euro.« Vorsichtig, als fürchte er einen elektrischen Schlag oder tue etwas streng Verbotenes, streckte er die Hand aus und berührte mit den Fingerkuppen das graue Gehäuse.
    »Neuntausendneunhundertneunundneunzig Euro für einen Fernseher! Mit Video und CD-Anschluss, das muss sein.« Er warf Julika, die zögernd näher kam, einen Blick zu und ging zu einer Vitrine mit Weckern. »Der hat einen Digitaltuner«, sagte er vor sich hin, »keinen analogen, das ist gut. Sechsundsiebzig Euro siebenundsechzig.«
    Jetzt fiel ihm ein, was er in dem Schaufenster mit den vielen Schuhen auf dem Kurfürstendamm vermisst hatte: Preisschilder!
    Über die Vitrine hinweg sah er Julika, die einen Flachbildfernseher betrachtete. Er ging zu ihr und stellte sich neben sie. Gemeinsam schauten sie die erloschene Scheibe an. Eine Minute lang. Als Julika nach Ricos Hand griff, hatte er längst damit gerechnet. Außerhalb der Zeit, anspruchslos und unbeschwert standen sie in der vierten Etage, umringt von Jugendlichen, die sich über die Vorzüge der digitalen Technik ereiferten, und von Männern, die mit Verkäufern Gespräche über Dinge führten, die sie beide niemals

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