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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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einem fünfzehn Kilometer langen Stau.
    Er stieg aus und schrie die Blechwände um ihn herum an. Eine Frau kam auf ihn zu und sagte: »Ruuuhig! Atmen Sie ganz ruuuhig! Hören Sie auf zu schreien! Konzentrieren Sie sich auf Ihren Atem.«
    Süden stieg in den Wagen, verriegelte die Türen und schrie weiter.
    Nebeneinander her rannten sie, Chips und Kekstüten und zwei Vita-Cola-Flaschen in den Händen, quer über den Parkplatz der Raststätte. Mit scharfen Schritten zerfetzten sie den Wind, der sich, unverwundbar, von neuem ihrem Übermut entgegenwarf.

TEIL 3
 
RAUS
    »Niemand soll büßen, niemand soll hassen, niemand soll traurig sein«

33
    » K omm, komm, komm!«, rief sie und rannte voraus. Und er, im Wind, der auf seinen Wunden brannte wie Frost, musste mit der Hand die Nase abdecken, weil er glaubte, sie würde anfangen zu bluten.
    »Komm, komm, komm!«
    Er verstand nicht, was mit ihr los war. Von der Autobahn hatte sie ihn direkt zum Kurfürstendamm dirigiert, mit dem Finger auf der ausgebreiteten Karte, die sie in der Raststätte gekauft hatten. Am Anfang verdeckte sie ihm fast die Sicht damit. Er hatte ihren Arm weggeschoben, und sie hatte ihm über die Wange gestrichen.
    »Komm, komm, komm!«
    Er hatte nichts dagegen sich diese Straße anzuschauen, von der er schon gehört hatte. Seine Mutter war hier gewesen, ohne ihn, denn er hatte kein Interesse gehabt sie zu begleiten. Was war das Besondere an der Straße? Die hohen Häuser? Die teuren Geschäfte, in deren Schaufenstern orangefarbene Handtaschen und weiße Jäckchen lagen, die sich kein Mensch leisten konnte? Die doppelstöckigen Busse?
    »Wohin denn?«, rief er. Aber der Wind schleuderte seine Stimme gegen das Schaufenster eines Geschäfts. Er sah hin. Da lagen unzählige Schuhe aus, und unter jedem Paar war ein Namensschild angebracht: »Bela«, »Pavel«, »Vladimir«, »Gazella«, »Beluga«, »Igor«. Er lehnte die Stirn an die Scheibe. Rico kam es vor, als würde in dem Laden, der noch geschlossen hatte, etwas fehlen.
    »Willst du dir neue Schuhe kaufen?«, fragte Julika, deren schwarzer Schal im Wind flatterte. Sie griff nach Ricos Hand.
    »Haben deine Schuhe auch Namen?«, fragte er.
    »Komm!« Sie zog ihn hinter sich her. Er schaffte es nicht mehr, sich die Hand über die Nase zu halten.
    »Lass mich los!«, rief er. Sie rief: »Jetzt nicht mehr!«
    An einer Kreuzung mussten sie warten. Gegenüber ragte ein riesiges ovales Hotel, das nur aus Fenstern zu bestehen schien, in den Morgenhimmel. Auf einer Videoleinwand wirbelten muskulöse Tänzer über die Bühne. Rico zeigte auf einen Betonkasten in der Nähe.
    »Sieht aus wie bei uns. Hab gar nicht gewusst, dass die hier auch mit Platte bauen.«
    »Du musst dir die schönen Häuser anschauen.«
    In der Sekunde, in der die Ampel umsprang, ging Julika weiter und drückte Ricos Hand.
    »Das ist schön«, sagte er. »Ich bin müde. Ruf deine Freundin noch mal an!«
    »Gleich«, sagte sie.
    »Der Turm sieht aus wie aus Eierschachteln gemacht«, sagte er.
    »Das ist ein Kirchturm und daneben, das ist die Gedächtniskirche.«
    »Kenn ich«, sagte Rico.
    »Woher?«
    »Denkst du, bei uns gabs kein Fernsehen?« Er zeigte auf das neunzehnstöckige Gebäude mit dem Mercedesstern auf dem Dach. »Da würd ich gern drin wohnen.«
    »Du spinnst.«
    »Warst du schon oft hier?«
    »Zweimal mit der Schule.«
    Im Auto hatte Rico ihr erzählt, dass er einmal mit der Schule nach Ostberlin fahren sollte, aber er hatte sich geweigert. Angeblich konnte er nicht so lange im Bus sitzen, weil ihm schlecht wurde.
    »Ruf deine Freundin an!«, wiederholte er. Zweimal hatte sie es schon versucht, gleich nachdem sie die Autobahn verlassen und an einer Telefonzelle angehalten hatten und vor einer halben Stunde in der Meinekestraße, wohin sie irgendwie gelangt waren, ohne den Stadtplan zu Hilfe zu nehmen. Sie hatten eine alte Frau nach dem Weg gefragt, aber sie sprach nur Griechisch.
    »Weißt du, wo wir sind?«, fragte Julika.
    Die Leute fingen an ihn zu nerven. Er hatte den Eindruck, alle starrten ihn an, als fragten sie sich, was er hier zu suchen habe, sogar die Penner, die überall bettelten, und die jungen Typen mit ihren Hunden und die Schwarzen mit den goldenen Uhren und die asiatischen Touristen in ihren Pulks. Rico wollte weg. Er wollte schlafen und nachdenken oder auch nicht nachdenken und nur schlafen oder nur daliegen. In seiner Vorstellung geriet alles durcheinander, die Zeit – wie lange waren sie eigentlich

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