Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
gefahren? Wie spät war es jetzt? -, die Umgebung – zuerst nur flaches Land, dann Häuser, dann endlose Straßen mit verwirrenden Hausnummern -, die Gesichter der Leute, ihre Kleidung, die Autos und die zweistöckigen Busse, alles trieb ineinander wie in einer Arena, im Kreis, neue Autos und Gesichter kamen hinzu, an den Fassaden spiegelten sich Wolken und die Häuser von der gegenüberliegenden Seite. Er dachte daran, wie er das Auto gestohlen und Julika abgeholt und wie sie ihn umarmt hatte und losgerannt war. Und er hatte den Golf gesteuert, als mache er jeden Tag nichts anderes. Das Fahren hatte ihn begeistert und die Tatsache, dass Julika neben ihm saß und sie gemeinsam aufgebrochen waren.
    Wo war er?
    »Das berühmteste Kaufhaus Deutschlands«, sagte sie.
    »Nein«, sagte er.
    Sie sah ihm in die Augen. »Welches ist berühmter?«
    »Ich geh da nicht rein.«
    »Warum nicht, Rico?«
    »Weil ich nicht will.«
    Er beobachtete die Leute, die zum Eingang hasteten, als würden drinnen Geschenke auf sie warten.
    »Was ist mit dir?« Julika schüttelte seinen Arm, und Rico riss sich los. Seine Bewegung war so heftig, dass er einen Schritt zurück wich und gegen etwas Hartes stieß, das klirrte. Erschrocken drehte er sich um.
    Da stand, in einem bodenlangen, schmutzigen Ledermantel, ein kahlköpfiger Mann, mit bleichem Gesicht und Augen in tiefen Höhlen, der vor dem Bauch einen an Lederriemen befestigten Holzkasten voller Messer trug. Anscheinend hatte er schon die ganze Zeit an derselben Stelle gestanden, an der Bordsteinkante vor dem Kaufhaus.
    »Tschuldigung«, sagte Rico.
    »Das passiert dauernd«, sagte der Mann. »Kaufen Sie ein Messer, junger Mann, Sie können es gebrauchen, im Alltag, täglich, Mehrfachverwendung, suchen Sie sich eines aus, preiswert wie nirgends! Sie auch, junge Dame, für zu Hause, für unterwegs…«
    »Ich brauch kein Messer«, sagte Rico.
    »Jetzt nicht, aber später?«, sagte der Mann freundlich.
    »Später auch nicht«, sagte Rico.
    »Das ist hochwertige Ware aus Solingen«, sagte der Mann. »Das ist alles scharf geschliffen, rostfrei, einige sind aus der Schweiz…«
    »Danke«, sagte Rico.
    »Vielleicht, wenn Sie rauskommen«, sagte der Mann.
    »Bessere kriegen Sie da drin auch nicht.«
    »Ich geh da nicht rein«, sagte Rico.
    »Komm!«, sagte Julika.
    »Gehen Sie mit der jungen Dame, ich steh immer hier.« Im Durchgang, in der Zugluft, blieb Rico stehen. »Das ist alles viel zu teuer«, sagte er.
    »Ich möcht dir doch nur die schönen Sachen zeigen, die es zum Essen gibt.«
    »Warum?«, fragte Rico.
    »Frag doch nicht dauernd.« Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er wich wieder zurück. Eine Frau mit einem blauen Kopftuch und silbernen Ohrringen schüttelte den Kopf über ihn.
    »Das ist vielleicht nicht gut, dass wir hier sind«, sagte Rico.
    »Vielleicht hätten wir weiterfahren sollen.«
    »Du wolltest doch nach Berlin, so wie ich.«
    Er wusste es nicht mehr. Ja, er wollte nach Berlin. Als Wunsch. Er hatte sich überlegt, dass die Stadt groß genug war, um unterzutauchen, so lange, bis sie ein Ziel hatten. Während immer mehr Menschen hereinströmten, gut gekleidete, gut riechende Leute, die zu den schönen Sachen wollten, von denen Julika gesprochen hatte, bedrückte ihn eine einzige, immer lauter in ihm tönende Frage: War es richtig gewesen abzuhauen, ohne seine Mutter? Ohne wenigstens noch einmal mit ihr geredet zu haben? Abzuhauen mitten in der Nacht, in einem geklauten Auto, die Arbeit hinzuschmeißen, die ihm so wichtig war? Abzuhauen mit einem Mädchen, von dem er noch immer nicht wusste, wer sie eigentlich war. Abzuhauen mit einem Mädchen, das von ihm schwanger war. Abzuhauen, nachdem er einen Freund getötet hatte.
    Nein! Es war nicht richtig gewesen! Es war falsch gewesen, vollkommen falsch, falscher als alles, was er je getan hatte! Und er hatte schon vieles falsch gemacht, viel zu viel! Dieses Abhauen war das Allerfalscheste von allem. Falscher sogar als das, was sie damals in dem brennenden Haus getan hatten. Falscher als das, was er vor zwei Nächten getan hatte. Das tat ihm nicht Leid, er hatte sich nur gewehrt. Und genau das würde er auch der Polizei sagen. Und wenn er ins Gefängnis musste, würde er einverstanden sein. Er wollte nicht weglaufen. Aber er war weggelaufen! Er hatte sich überreden lassen, er hatte sich selber überredet, auf unerklärliche Weise war er plötzlich ein anderer gewesen. Das war er doch gar nicht! Wenn er jetzt zurückdachte

Weitere Kostenlose Bücher