Gottes Tochter
brauchen würden, darin waren sich Julika und Rico wortlos einig.
Niemand kümmerte sich um sie, auch keiner der grinsenden Verkäufer, die es gewohnt waren, dass Leute bloß herumstanden und guckten und keinen Euro in der Tasche hatten und nur mal sehen wollten, was die Welt zu bieten hatte. Rico dachte an den alten Fernseher zu Hause. Von früh an hatte sein Vater ihm erlaubt, vor dem Schlafengehen das Sandmännchen anzuschauen. Er konnte sich nicht erinnern, dass es einmal keinen Fernseher in der Wohnung gegeben hätte. Julika dachte an die Nacht auf der »Independia«, an die schmale Koje, in der Rico nicht bemerkt hatte, dass die Farbe ihrer Haare auf dem Kopf und zwischen den Beinen verschieden war, so sehr hatte er sich auf sich konzentriert. Und sie hatte ihn dazu ermutigt. Für ihn war es nicht das erste Mal, nur das erste Mal auf einem Schiff, und ihr schien trotz der Enge und der Trunkenheit und der Heimlichkeit alles wie ein Spiel. Ihre Bewegungen flossen, wie in langen Proben geübt, ineinander. Und als Rico gewandt und begierdevoll in sie drang und sein Gesichtsausdruck sie berührte, weil seine eigene Schnelligkeit ihn traurig machte, hörte mit dem Schrei in ihrer Hand – denn sie hielt sich die Hand vor den Mund, weil er ihr Schmerzen zufügte – ihr Feigesein auf, und zwar für immer. In diesen Sekunden sprang ein Schloss in ihr auf, und dahinter öffnete sich ein Raum, unverwüstet vom Terror ihrer Eltern, klangvoll und weit.
»Komm!«, sagte sie und zerrte an seiner Hand.
»Muss dir was sagen«, sagte Rico.
»Jetzt nicht.«
Ein solches Übermaß an Lebensmitteln hatte er noch nie gesehen. Wurst und Fleischwaren, in Plastik verpackt, in Dosen, Gläsern, offen ausgebreitet hinter Thekenscheiben, an Haken und Schnüren hängend, in Körben liegend, Konserven zu Hunderten in einem einzigen Regal, Imbissstände, an denen Champagner ausgeschenkt wurde, Kaffee und Tee und Mineralwasser aus grünen Fläschchen und frisch gepresste Säfte in auffälligen Gläsern.
Rico ging an allem vorbei, und alles war echt. Die Gerüche von frischem Käse, Fleisch und gebratenen Kartoffeln, von Fett und Fisch, dazu die Fahnen von Parfüm, die ihn umwehten, raubten ihm den Atem, und er hielt sich die Hand vor die Nase.
»Jetzt trinken wir englischen Tee und essen was«, sagte Julika und nahm seine Hand, damit er sie nicht länger vors Gesicht hielt. Sie dirigierte ihn zu einer Theke, an der belegte Brötchen, Kuchen und Kekse verkauft wurden.
»Ich will Kaffee«, sagte er.
Sie bestellte Tee und Kaffee und zwei aufgeschnittene Käsebrötchen. Sie mussten stehen, denn jeder Stuhl war besetzt.
»Ist das nicht wundervoll hier?«, fragte Julika. Er fürchtete, in dieser Umgebung stottern zu müssen.
»Trink doch etwas!«
Er trank. Der Kaffee war heiß und stark. Hungrig aß Julika ihr Brötchen. An einem Stand in der Nähe gab es Berge von Pralinen, manche verpackt in Schachteln, einzelne Stücke in Zellophan mit roten und blauen Schleifen, dunkelbraune, hellbraune, weiße Schokolade. Rico bildete sich ein, sie auf der Zunge schmecken zu können, süß und bitter und klebrig, die schmelzende dünne Schale, das Samtigflüssige, und auf den Lippen gefärbter Speichel, der, wenn er ihn schluckte, einen milchigen Nachgeschmack am Gaumen hinterließ. Seine Mutter hatte ihm selten Schokolade geschenkt, und er hatte nicht darum gebettelt. Und wenn es welche gab, schmeckten sie muffig. An dem Stand zeigte eine alte Dame, die einen blauen Hut trug, auf die Glasscheibe, und die Verkäuferin zupfte die Pralinen mit einer silbernen Zange aus dem Haufen und steckte sie behutsam in eine Tüte.
»Du musst was essen«, sagte Julika.
»Ja«, sagte er. Er hielt die aufgeschnittene Hälfte hoch, betrachtete sie, steckte sie in den Mund und nahm sie wieder heraus. Vom Käsegeschmack wurde ihm übel. Er legte das Brötchen auf den Teller zurück und wischte sich über den Mund. Julika gab ihm ihre Papierserviette, und er wischte sich noch einmal den Mund ab.
»Ist es nicht gut?«
»Doch«, sagte er.
Sie sah ihn an, und für einen Moment erschrak sie. Für die Dauer dieses Blicks erschien er ihr wie ein Gefangener, der ausgebrochen war und sich nicht zurechtfand und danach sehnte, in seine Zelle zurückzukehren, wo alles übersichtlich und vertraut war. Er erschien ihr wie einer, der sein Leben lang ein Gefangener bleiben würde, ganz gleich, wohin es ihn verschlug. Blass und mit einem Ausdruck von Verlorenheit im Gesicht stand
Weitere Kostenlose Bücher