Gottes Tochter
wegen ihr war sie hier, eine armselige Geste, wie sie fand, und doch unvermeidlich.
»Danke«, sagte Süden. Er hatte sich Kaffee und einen mit Schokolade überzogenen Hefeteigkringel bestellt, den er nicht essen würde. Nachdem er sich gesetzt und den Reißverschluss seiner Jacke aufgezogen hatte, nahm er den Kaffeebecher in beide Hände, ohne zu trinken. »Wo ist Ihre Tochter, Frau de Vries?«
Sie sah aus dem Fenster. Ein Fahrradfahrer sauste nah an der Scheibe vorbei, und Margit de Vries zuckte zusammen.
»Wissen Sie es?«, fragte Süden. Sie schüttelte den Kopf.
»Haben Sie eine Vermutung?«
Sie leckte sich die Lippen, legte das salzige Frittenstück, das sie schon zur Hälfte im Mund gehabt hatte, aufs Tablett und rieb so lange mit der Papierserviette ihre Hände ab, bis das Papier zerriss. Sie stand auf, ging zu dem Kasten mit den Strohhalmen und Servietten, zog mehrere Papiertücher heraus, wischte sich über den Mund und setzte sich wieder.
»Müssen wir uns Sorgen machen, Frau de Vries?«, fragte Süden.
»Das weiß ich nicht«, sagte sie leise.
»Ist Ihre Tochter wegen ihres Vaters weggelaufen?«
»Sie ist nicht weggelaufen«, sagte sie. »Sie ist nicht weggelaufen, sie ist… sie kommt wieder.«
»Natürlich«, sagte Süden. »Ich bin nicht zuständig für die Dinge, die in Ihrer Familie passieren. Sie müssen mir nichts erzählen, was Sie nicht wollen. Aber Ihr Mann hat eine Vermisstenanzeige erstattet, und Ihre Tochter lebt noch bei Ihnen. Und sie ist gerade erst achtzehn geworden. Sie ist volljährig, sie kann tun, was sie möchte, aber vielleicht tut sie nicht das, was sie möchte.«
»Ganz genau!«, sagte Margit de Vries und saugte gierig am Strohhalm. Dann hielt sie erschrocken inne und stellte den Becher mit einer heftigen Bewegung auf den Tisch.
»Wer, glauben Sie, hat Ihre Tochter veranlasst wegzugehen?«, fragte Süden. Es war, als würde ein undurchdringlicher Schleier vor ihr Gesicht fallen, sie senkte die Lider, rückte mit dem Stuhl, vergrub die Hände im Schoß, wandte sich zur Seite wie jemand, der mit seinem Gegenüber nicht länger sprechen möchte. Jugendliche redeten laut aufeinander ein, rempelten sich mit ihren Rucksäcken an. Eine auffallend dünne Frau räumte die Tabletts mit den Essensresten von den Tischen. Süden trank den schwarzen Kaffee aus und reichte der dünnen Frau sein Tablett.
»Essen Sie den Doughnut nicht?«, sagte die Angestellte.
»Das ist ein Doughnut?«
»Wissen Sie nicht, wie ein Doughnut aussieht?«
»Möchten Sie ihn essen?«
»Nein«, sagte die dünne Frau.
»Ich ess ihn!«, sagte Margit de Vries und nahm den Kringel vom Tablett. Er schien ihr wirklich zu schmecken, sie kaute und schmatzte ein wenig und sah dabei kein einziges Mal den Kommissar an. Als sie fertig war, wischte sie sich mit einer der Servietten, die noch auf dem Tisch lagen, den Mund ab, mehrere Male, mit Nachdruck.
»Hat die Journalistin Sie gefragt, wo Sie hingehen?«
»Nein. Ich hab gesagt, ich geh einkaufen. Mein Mann wird allein mit ihr fertig, er hat sie ja auch bestellt, ich hab damit nichts zu tun.«
»Was verspricht er sich davon?«
»Dass unsere Tochter bald zurückkommt.«
»Könnte es sein, dass Julika an der Ostsee ist? Dort, wo Sie über Weihnachten waren, bei Ihrer Schwester?«
»Das glaube ich nicht.«
»Aber es wäre möglich.«
»Ich weiß nicht.«
Nach einigen Minuten, in denen sie nicht sprachen, holte sich Süden einen zweiten Kaffee und trank ihn im Stehen. Er verstand nicht, wieso diese Frau nicht die Wahrheit sagte, wieso sie ihn nicht zumindest mit ein paar Details aus dem Familienleben abspeiste und ihn bat, den Eifer ihres Mannes nicht überzubewerten.
»Dann sollen wir also abwarten«, sagte er schließlich, stellte den Becher auf den Tisch und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. »Gehen wir, Frau de Vries.«
Wortlos erhob sie sich, und er hielt ihr die Tür auf.
»Ja«, sagte sie auf dem Bürgersteig und rührte sich nicht von der Stelle, obwohl die Fußgängerampel Grün zeigte.
»Wir warten ab.«
»Das geht nicht«, sagte Süden laut, und wieder zuckte sie zusammen. »Wir können nicht abwarten, und gleichzeitig fahndet das Fernsehen nach Ihrer Tochter.«
Weil sie nichts erwiderte, sagte er: »Was ist mit Ihrem Mann? Warum schaltet er diese Reporterin ein? Ihre Tochter kann selbst entscheiden, was für sie gut ist, und wenn sie entschieden hat, ein paar Tage wegzufahren, darf sie das. Ihr Mann hat Julika nichts zu befehlen, so
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