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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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den Weg zum Kino. Nach ein paar Metern holte Nicole Sorek ihn ein. Er blieb nicht stehen. Sie ging neben ihm her. Das Kino war geschlossen, die erste Vorstellung begann erst um siebzehn Uhr. Es nieselte. Der Wind war kalt.
    »Haben Sie etwas von ihr gehört?«, fragte Nicole Sorek. Süden schwieg.
    »Ich muss jeden Tag an sie denken.«
    Sie schwiegen beide. Hinter der Glasscheibe hing ein Filmplakat: »Nirgendwo in Afrika«. Nirgendwo. In Afrika. »Sie« war dort, das vierzehnjährige schwarze Mädchen, allein. Ihr Vater war bei der Ankunft in Lagos von einem Auto überfahren worden, die Frau, die er heiraten wollte, hatte sich erhängt, am Ende der Liebe, gemeinsam mit dem Mann, der sie entführt hatte, um die Ausweisung des Mädchens und dessen afrikanischen Vaters zu erpressen. Es war ihm gelungen.
    »Gelungen!«, sagte Süden.
    Die Reporterin sah ihn an. Sie hatte über das randalierende Mädchen berichtet, sie war von ihr angegriffen und verletzt worden, sie war im Flugzeug dabei gewesen, als der Vater mit der Tochter freiwillig das Land verließ, damit seine entführte Verlobte freikäme.
    »Sie haben keine Schuld«, sagte Nicole Sorek. Süden sagte: »Das ist das Unerträglichste daran.«
    »Sie haben keine Schuld«, wiederholte sie.
    »Auf Wiedersehen«, sagte er.
    Sie sagte: »Ich mach meinen Job weiter. So wie Sie.«
    Er ging die Rottmannstraße hinunter, vorbei an dem gelben Haus, in dem die Familie de Vries wohnte, blickte zum ersten Stock hinauf und bemerkte Margit de Vries, die die Gardine zur Seite schob und das Fenster öffnete. Sofort wandte sie sich um.
    Schräg gegenüber dem vierstöckigen Haus klopfte ein alter Mann, der einen ramponierten Mantel trug, mit seinem Krückstock an ein Schaufenster.
    »Da können Sie Schweiß kaufen«, nuschelte er. »Das ist gesund.«
    In dem Laden wurden Saunen und Solarien angeboten.
    »Was ist ein Danarium?«, fragte der Mann und zeigte mit dem Stock auf das Schild des Inhabers. »Für mehr Wellness-Wohlgefühl, hier stehts. Bei mir nutzt das nichts mehr. Bei Ihnen vielleicht. Suchen Sie sich was aus, lauter Öle für die Aufgüsse in der Sauna.«
    »Ich gehe nie in die Sauna«, sagte Süden. »Ich habe Klaustrophobie.«
    »Ach was«, sagte der Mann. »Hier…« Er klopfte gegen die Scheibe. Der Laden hatte noch geschlossen. »Anis, stimmungs… Wie heißt das?« Aus Versehen stieß der Alte mit der Stirn gegen die Scheibe. »Tschuldigung. Stimmungs… Können Sie das lesen?«
    »Stimmungsaufhellend, angstlösend«, las Süden.
    »Das ist doch praktisch«, sagte der Mann. »Da werden Sie Ihre Klaustrophobie los.«
    »Ich bin auf meine Gewohnheitsängste angewiesen«, sagte Süden.
    Der Alte schüttelte den Kopf. »Oder hier – Ginseng, das kenn ich, gegen Depressionen, da stehts. Haben Sie auch Depressionen?«
    »Ja«, sagte Süden.
    »Ginseng«, sagte der Alte. »Hinterher fühlen Sie sich wie neugeboren.«
    »Mir reicht die eine Kindheit«, sagte Süden. Der Alte hämmerte wieder mit dem Stock gegen das Schaufenster.
    »Für mehr Wellness-Wohlgefühl. Da brauch ich keine Sauna dazu, das schaff ich auch so. Und Sie, Freund der italienischen Oper? Sie haben auch nichts gegen Bier, wenn ich das so sagen darf, oder sind das gebogene Muskeln da an Ihrem Bauch?«
    »Nein«, sagte Süden. Im Fenster sah er, wie jemand aus der Einfahrt neben dem gelben Haus auf die Straße trat.
    Margit de Vries schaute sich um. Als sie ihn sah, ging sie in die entgegengesetzte Richtung davon. Er wartete. Sie ging mit schleppenden Schritten. Dann folgte er ihr. Der Alte hämmerte mit dem Stock gegen die Scheibe.
    In einem asiatischen Lebensmittelgeschäft kaufte Margit de Vries abgepackte Glasnudeln, Sojasauce und eine winzige Dose Tee, bei einem Bäcker vier Semmeln, in einem Schreibwarenladen eine Illustrierte, bei einem griechischen Obsthändler zwei Bananen. Sie hatte einen Baumwollbeutel dabei, in dem sie die Sachen verstaute. Alles, was sie sagte, war »Danke« und »Auf Wiedersehen«. Einmal, auf der Gabelsberger Straße, kurz vor der Kreuzung Augustenstraße, wandte sie sich um, blieb stehen, sah, wie Tabor Süden in der Ferne ebenfalls stehen blieb, überquerte die Straße und betrat ein McDonald’s-Restaurant.
    Als Süden hereinkam, saß sie an einem Platz am Fenster, aß Pommes frites und hielt einen Pappbecher mit Mineralwasser in der Hand. Sie hatte weder Hunger noch Durst, die Fritten waren lauwarm, sie aß nie in solchen Lokalen, im Gegensatz zu ihrer Tochter. Nur

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