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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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zerbarst in einer Sekunde. In ihrem Kopf breitete sich ein loderndes Nichts aus, das sie vorantrieb. Sie rannte. Der dünne kalte Regen, der einsetzte, schlug ihr in die Augen, Sie lief von der Wolgaster über die Güstrowstraße zu einem betonierten Platz und dort vor einem Supermarkt auf und ab, als wisse sie nicht, wohin, und sie wusste es auch nicht.
    Leute blieben stehen und beobachteten sie. Sie starrte in die Schaufenster eines flachen Neubaus, in dem Teppichböden, Tapeten, Bettwäsche und Gardinen verkauft wurden. Sie lief bis ans Ende des Platzes. Und wieder zurück. Zweimal hin und her. Vorn auf der Straße rasten Autos vorbei, und auf der Brücke, die von der S- Bahnstation über den Grünstreifen neben der Schnellstraße führte, tauchten immer mehr Leute auf. Julika bildete sich ein, sie wären hinter ihr her und würden sie jagen und schließlich umzingeln.
    Sie sank auf die Knie. Sie spuckte auf den Boden, rang nach Luft und stützte die Hände auf den nassen Beton. Von ihren Haaren tropfte der Regen auf ihre Finger. Mit einem Stechen in der Brust richtete sie sich auf. Sie wusste nicht, wo sie war. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie Leute auf Baikonen. Unzählige Balkone waren über ihr, es mussten Hunderte sein. Doch sie schaffte es nicht, den Kopf höher zu heben. Stattdessen fiel ihr ein rotes rundes Schild mit einem schwarzen Telefonhörer in der Mitte auf, das an einem der Fenster im Parterre klebte. Vor dem Fenster befand sich wie in Ricos Wohnung ein Balkon mit zwei Halterungen für Blumenkästen. Die Wohnung war leer, über dem Telefonsymbol standen »Vermietung« und eine Nummer. Endlich hatte sie die Kraft aufzustehen. Der Regen wurde stärker.
    Sie befand sich vor einem zehnstöckigen Gebäude mit gelben, grünen, blauen und weißen Baikonen, die Fassade aus Klinkerplatten, mehrere hundert Meter lang. An einigen Türen hingen Schilder: »Magic Tattoo by Marco«, »Zoofachgeschäfte«, »Allianz, Flexible Zusatzrente«. An der rechten Schmalseite prangten drei riesige Sonnenblumen, und Julika legte den Kopf in den Nacken und bestaunte die monumentalen, in die Ziegel gebrannten gelbbraunen Blüten.
    Von diesem Haus hatte sie gehört, als Journalisten aus der ganzen Welt wochenlang von hier berichteten. Sie war ein kleines Mädchen gewesen, aber jetzt erinnerte sie sich nicht mehr daran. Auch später nicht, als Rico in die Vergangenheit zurückkehrte und sie ihm folgte.
    Dann fiel ihr das kleine Kreuz neben der Kantinenkirche ein. Sie sah wieder den mit Kreide geschriebenen Namen:
    »Mary«. Und zum zweiten Mal erschrak sie, ohne zu wissen, worüber. Um sich zu beruhigen, holte sie das Handy und das schwarze Tagebuch aus der Jacke. Regen fiel darauf. Rasch steckte sie beides wieder ein und lief zurück vor die leer stehende Wohnung, neben der ein Durchgang zu den Hauseingängen führte. Julika stellte sich unter, schlug ihr Tagebuch auf und tippte eine Nummer ins Handy.
    »… Ich möchte Ihnen sagen, dass es mir gut geht…«, sagte sie. Und als der Mann am anderen Ende sie unterbrach, sagte sie:
    »Ich bin, wo ich bin.« Sie redete sich in eine Wut hinein, die sie hinterher ärgerte, weil sie diesem Fremden etwas von sich preisgegeben hatte. Außerdem hatte sie ihn allen Ernstes gefragt, weshalb er nicht verhindert habe, dass ihr Vater das Fernsehen auf sie hetzte.
    Von der Brücke oberhalb des Grünstreifens blickte sie noch einmal zu dem Mammutgebäude mit den Sonnenblumen, gegen die der Regen schlug.
    »Was wolltest du dort?«, fragte Rico erschrocken.
    »Ist das verboten, da hinzugehen?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte er. »Meine Mittagspause ist zu Ende.« Er trug einen grauen Kittel und hatte schmutzige Hände. Sie standen vor dem Eingang eines Fabrikgebäudes am Petri-Damm. Aus den Hallen hinter den Büros drang Pfeifen und metallisches Hämmern.
    »Danke für deinen Brief«, sagte Julika.
    Unruhig kratzte er sich im Gesicht. »Ich kann nicht gut schreiben, tut mir Leid, sind bestimmt tausend Fehler drin.«
    »Nur ein paar.«
    »Ein paar hundert«, sagte er.
    »Hast du Urlaub, Keel?« Ein junger Mann mit einem Aluminiumkoffer ging an ihnen vorbei, er trug ein blaues Sakko, einen dunklen Rollkragenpullover und blaue Sportschuhe.
    »Das ist der Personalassi«, sagte Rico. »Der ist stolz drauf, dass seine ABM-Stellen immer noch nicht gestrichen worden sind, der hält sich für einen Netten.«
    »Was machst du da drin?«
    »Wir machen alles Mögliche, Schallschutz, Isolierung,

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