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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Kreis, betrachtete die Möbel und fragte sich, wie man hier leben konnte, ohne zu ersticken. Für diesen Gedanken schämte sie sich so, dass sie sich auf die Couch setzte und über den rauen Bezug strich, als würde sie ein Tier streicheln. Mehrere Minuten saß sie da, mit Blick zum Fenster, zu den grünen Pflanzen.
    Den Wohnzimmertisch hatte Marlen abgeräumt und die Zeitschriften, die gestern vor dem Fernseher auf dem Boden gelegen hatten, neben dem Gerät gestapelt. Das Zimmer kam Julika groß vor, größer als das ihrer Eltern, wenn auch niedriger und schäbiger. »Ist nicht schäbig«, sagte sie leise und strich noch einmal über das Sitzkissen der Couch, bevor sie aufstand und in die Küche ging.
    Im Ausguss standen zwei Tassen und zwei Teller, daneben lagen zwei Messer und zwei kleine Löffel. Auf dem Tisch mit der rosafarbenen Wachstuchdecke fand Julika ein weißes Din-A4-Blatt, mit Kugelschreiber beschrieben: Für Julika. Sie drehte die Seite um. Die Unterschrift wirkte ebenso ungelenk wie der Rest: Rico.
    Julika nahm ein Glas aus dem Wandregal und die Milchtüte aus dem Kühlschrank, setzte sich an den Tisch, goss das Glas voll, trank einen Schluck, legte das weiße Blatt vor sich hin und schaute die krumme, blassblaue Schrift an. Und je länger sie hinsah, desto lebendiger erschienen ihr die Buchstaben, als würden sie untergehakt einen Tanz vollführen, Zeile für Zeile. Wieder griff Julika nach den Fingern ihrer linken Hand und roch an den Kuppen. Dann las sie die Nachricht. Hoffentlich hast du gut geschlafen, ich habe dich nicht weken wolen, ich hab mich leise angezogen, das war schön dir beim Schlafen zuzusehen. Heute frü hab ich gewartet bis meine Mutter weg ist, dan hab ich dir schnell geschrieben. Was sollen wir tun? Darüber hab ich die ganze Nacht nachgedacht. Denn es mus eine Enscheidung getrofcn werden. Hast du deinen Eltern bescheit gesagt? Wissen die was? Ich hab vergesen ob du das erwehnt hast. Wen es nach mir geht, kanst du eine Weile bei uns bleiben, aber was ist wen wirklich die Polizei komt? Du bist doch abgehauen, die werden dich verfolgen, die bringen dich zurück, das ist alles sehr gefärlich. Unten steht die Adrese von der Firma, wo ich arbeite, da trefen wir uns, bitte komm hin, ich kan mittag eine Stunde weg. Du färst mit der S-Bahn, wie es da steht. Sei nicht mehr traurig, eine Lösung wird gefunden. Rico.
    Sie faltete den Brief so oft zusammen, bis er in ihre Faust passte. Sie trank das Glas leer, spülte es mit Wasser aus und stellte es zum Geschirr im Ausguss. Dann ging sie ins Badezimmer, wo zwischen Wanne, Waschmaschine, Waschbecken, einem Wandschrank und zwei niedrigen Holzkästchen kaum Platz war, um sich auszuziehen. Auf dem Wannenrand lagen zwei saubere grüne Handtücher. Nachdem sie in der Wanne kniend geduscht hatte, föhnte sie ihre Haare, schlug sich das Knie an einem der Holzkästchen an, auf dem mehrere Jeans gestapelt waren, las noch einmal Ricos Nachricht, setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. In der Serie »Ein Schloss am Wörthersee« brachte Roy Black einen Skinhead dazu, Ausländer zu mögen, vielleicht – Julika hatte sofort den Ton abgestellt – drohte er ihm damit zu singen, falls der Neonazi sein Leben nicht ändere, was diesen aus Verzweiflung zur Einkehr und Umkehr zwang. Später lief »Eine schrecklich nette Familie«, da hatte Julika schon das schwarze Tagebuch aus ihrer Sporttasche geholt und schrieb.
    Bevor sie anfing, malte sie jedes Mal ein Gesicht oben links auf die Seite, rund wie eine Sonne, dessen Augen und Mund ihre momentane Stimmung wiedergeben sollten. Am Ende des Tages malte sie noch einmal ein Gesicht und verglich die beiden, ob sie sich verändert hatten. Meist sahen die Sonnen identisch aus.
    Heute zog sie nur waagrechte Striche für Augen und Mund und einen kurzen senkrechten Strich für die Nase. Darunter schrieb sie: Ich habe Rico die Wahrheit gesagt, und das war vielleicht ein Fehler, jetzt fragt er, was wir tun sollen, aber ich habe ihm schon gesagt, was passieren wird: Das Kind wird diese Welt nicht erleben, es ist ein Versehenskind, und ein zufällig entstandenes Kind wird immer spüren, dass es ein Versehen ist. So wie ich. Auch ich bin ein Versehenskind, doch meine Mutter traute sich nicht, konsequent zu sein, sie presste das Versehen aus sich heraus. Das werde ich nicht tun. Diese Wunde füge ich diesem Kind nicht zu, unverwundet wird es verschwinden, und niemand wird es vermissen. Ich

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