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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hätte Rico nicht davon erzählen dürfen. Ich habe alles falsch gemacht. Ich werde ihm sagen, ich habe gelogen, ich hätte mit meinem Arzt telefoniert… Mitten im Satz sprang sie auf und stellte sich ans Fenster. Draußen fiel dünner Regen. Auf dem lehmigen Rasen zwischen den fünfstöckigen Häusern mit den Flachdächern spielten drei Jungen Fußball, schossen die Skulpturen an, dribbelten um sie herum, stießen Schreie aus. In dem winzigen Garten wucherte Unkraut, und der knospenlose Strauch sah aus, als wäre er längst verdorrt. Eine schmale Straße führte am Haus vorüber, gesäumt von mageren Bäumen.
    Julika fühlte sich am richtigen Platz. Die Monotonie und Anonymität der Gegend entsprachen so sehr ihrer inneren Landschaft, dass sie nahe daran war, die Balkontür zu öffnen, hinauszulaufen und die Luft zu umarmen.
    Wenn sie nicht in dieser Wohnung bleiben durfte, womit sie rechnete, würde sie eine billige Pension finden. Und bestimmt bekäme sie einen Job als Bedienung, solche Jobs gab es überall, auch in einer Plattenbausiedlung außerhalb der Stadt. Sie wollte hier nicht wieder weg, hier würde sie dazugehören und gleichzeitig niemandem lästig sein, niemand würde sie heimlich beobachten oder verfolgen. Sie wäre nur eine Bewohnerin, eine von Zehntausenden, die ihrer schlecht bezahlten Arbeit nachging, doch das Geld würde reichen, und vielleicht… vielleicht…
    Vielleicht gab es ein Theater in der Stadt, in dem sie hospitieren und kleinere Rollen übernehmen könnte, wenn jemand krank wurde. Und nach der Vorstellung würde sie mit der S-Bahn in diesen Vorort fahren, erfüllt von einem reichen Tag, unbelästigt, aufgehoben in einer von ihr selbst geschaffenen Gegenwart.
    Sie drehte sich zum Sofa um und wollte sich gerade wieder hinsetzen, als sie ihr Foto im Fernsehen sah.
    Für einen Moment vergaß sie zu atmen. Dann begriff sie, dass das, was sie sah, ein normales Ereignis war, sie hatte es erwartet, nicht bewusst, aber jetzt, da es eintrat, erschien es ihr logisch und unvermeidbar. Sie schaltete den Ton ein. Eine Reporterin interviewt einen unrasierten Mann mit halblangen Haaren, dessen Name und Funktion eingeblendet werden. Einen Beamten der Kriminalpolizei hat sich Julika anders vorgestellt. Dann kommt ihr Vater ins Bild. Er ist in ihrem Zimmer, wieso auch nicht, er betritt ihr Zimmer und lässt fremde Leute rein, das Zimmer ist sein Eigentum, wie sie. Wo ist ihre Mutter? Er hat ihr untersagt sich einzumischen, wie immer, und sie fügt sich, natürlich. Jetzt wieder dieser Mann in der Lederhose…
    Sie schaltete den Ton aus, setzte sich und schaute hin. Die eingeblendete Telefonnummer der Polizei notierte sie in ihrem Tagebuch. Noch einmal prangte ein großes farbiges Foto von ihr auf dem Bildschirm, das Foto, das im Wohnzimmer ihrer Eltern auf dem Bücherschrank stand.
    Wieder sah sie das Gesicht des Polizisten. Vor der Werbung kündigte die Reporterin einen Bericht über zwei verschwundene Kinder an. Julika schaltete das Gerät ab, zog ihre Stiefel und die Wildlederjacke an und band sich den langen Schal um den Hals. Ihr Tagebuch, Ricos Zettel und das Handy hatte sie eingesteckt, doch erst als sie auf der Wolgaster Straße ging, vorbei an dem Park, der zu einem Kindergarten gehörte, stellte sie fest, dass sie keinen Wohnungsschlüssel hatte. Und ihre Tasche lag in der Wohnung.
    Abrupt blieb sie stehen. Sie blickte zur Tür des braunen Plattenbaus, aus dem sie gekommen war, und biss sich auf die Lippen. Sie ging weiter und erreichte ein flaches Gebäude mit großen Fenstern, das aussah wie eine Kantine. An der Tür hing ein Schild: »St. Thomas, evangelisch-lutherische Gemeinde«. Julika betrachtete es eine Weile. Drei Stufen führten zur Straße hinunter. Die Hände in den Jackentaschen, stieg sie hinab, sah nach rechts auf eine graue Sandfläche, die übersät war von altem Laub und Abfall. Sie überlegte, welche Richtung sie einschlagen solle, und schaute noch einmal um. An einer unverputzten Ziegelwand lehnte ein etwa ein Meter hohes Kreuz aus zwei Holzbrettern, vor das jemand einen Stein gelegt hatte, damit es nicht umkippte. Auf dem Querbalken stand mit Kreide geschrieben: »Mary 25 J.«, auf dem Längsbalken ein Datum.
    Der Anblick des Kreuzes versetzte Julika in Panik. Alles, was sie soeben überlegt hatte – wohin sie gehen, ob sie die S-Bahn nehmen und in die Stadt fahren solle, um Rico zu treffen, ob es klug wäre, bei einem hiesigen Arzt den Eingriff vornehmen zu lassen -,

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