Gottes Tochter
Öffentlichkeit gelangen. Im schlimmsten Fall erfuhren Werneck und Friese davon, für die negative Publicity einem Menetekel gleichkam, das ihre Existenz bedrohte. Die Zeiten waren schwierig, und die Konkurrenz schlief nicht, und die Vorstellung, in einem Bundesland mit einer derart hohen Arbeitslosenquote ohne Job dazustehen, katapultierte Sibylle Kamphaus aus ihrer postpokularen Melancholie in einen Zustand brutaler Wachheit.
»Unser Termin ist zu Ende«, sagte sie. »Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen.«
»Ich weiß noch nicht«, sagte Süden. »Sie sehen sehr blass aus, es tut mir Leid, wenn ich Sie so lange aufgehalten habe.«
»Nein«, sagte sie. »Ist schon…« Sie musste nach Hause, sie musste sich hinlegen. Was bedeutete das, dass Steffen Nossek tot war? Sollte dieser Juri Gottow, dieser frei herumlaufende Mörder, zu einem Rachefeldzug angetreten sein, an seiner Verlobten und seinem besten Freund?
»Wie lange brauche ich bis zur Stadtbibliothek ins Hansa-Viertel?«, fragte Süden.
Als er dort ankam, sprach Marlen Keel bereits mit einem anderen Polizisten.
Hinter ihr stand wie ein kurzsichtiger übergewichtiger Bodyguard ihre Kollegin Paula, mit einem Blick, der wie ein Flammenwerfer ihre dicke Brille durchschlug. Neben dem Tisch, an dem Marlen und der uniformierte Polizist saßen, stand ein Mann, den Süden nicht kannte. Er trug ein braunes Sakko und Jeans und erweckte den Anschein, als wolle er die ganze Zeit etwas sagen, komme aber nicht dazu. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, er hob die Hand und senkte sie wieder, er räusperte sich und schüttelte den Kopf. Als Süden den Raum betrat, warf ihm der uniformierte Kollege einen Blick zu und setzte die Befragung fort, indem er vor allem einen Monolog hielt.
»Du brauchst nichts zu sagen, Marlen, hast du das verstanden, ich hab dich darüber belehrt, was du darfst und was nicht. Du hast keinen Anwalt, und ich wiederhole mich, du brauchst keinen, nicht im Moment, ich würd nur gern wissen, wo dein Sohn sein könnte, er kommt doch sonst immer nach Hause, hast du selber zu Henry heut Morgen gesagt, deswegen bin ich ja hier, er hat Druck gekriegt, ich weiß nicht, von wem, die alte Geschichte, du weißt schon, die Staatsanwaltschaft in Schwerin, niemand in unserer Inspektion versteht, was der Tod von Ale und jetzt der von Steffen mit der Sache damals zu tun hat, niemand, Marlen, und dein Rico hat damit auch nichts zu tun. Aber wir müssen ihn sprechen. Er war wohl der Letzte, der Steffen gesehen hat, ich behaupte das nicht, der Wirt sagt, Steffen ist ihm hinterhergelaufen, das hab ich dir alles schon erklärt, wo kann er denn sein, dein Rico?«
Marlen Keel hatte Ringe unter den Augen, und ihre Haare sahen anders aus. Süden brauchte eine Zeit lang, bis er begriff, dass sie sie abgeschnitten hatte, an der Stirn und über den Ohren, und wenn er sich nicht täuschte, hatte sie sich nicht viel Mühe dabei gegeben. Der hellgraue Pullover, den sie anhatte, ließ ihr Gesicht noch blasser erscheinen.
»Ich möcht dazu was sagen«, sagte der Mann im braunen Sakko.
»Gleich, Herr Schild«, sagte der Polizist. »Marlen, wenn du weißt, wo er ist, sag es mir!« Er drehte den Kopf kurz zu Süden, ehe er weiter auf Marlen Keel einredete. »Ich sprech mit ihm, ich allein, er kennt mich doch. Wenn er nichts damit zu tun hat, werd ich es merken, ich hab solche Vernehmungen schon oft geführt.« Abrupt wandte er sich erneut um. »Kann ich was für Sie tun, Kollege?«
»Nein«, sagte Süden. Er verschränkte die Arme und sah Marlen Keel an.
»Das geht so nicht«, sagte der Polizist. Sein Blick kam Süden vor, als hätte er ihn sich von Paula geliehen.
»Was meinen Sie, Herr Kellerfink?«, fragte Süden. Er hatte seinen Kollegen wiedererkannt.
»Ich meine, ich führe hier eine Vernehmung durch, Kollege Süden, und für diese Vernehmung sind Sie nicht zuständig. Ich bitte Sie, den Raum zu verlassen und draußen zu warten.«
»Ich werde nicht draußen warten.«
»Ich bitte Sie«, sagte Kellerfink. »Muss ich erst in der Inspektion anrufen und Sie auf Befehl hinausweisen? Das wollen wir doch vermeiden.«
»Ja«, sagte Süden.
Kellerfink zeigte zur Tür. Süden blickte über die Schulter nach hinten. Dann stand er da wie vorher, unverrückbar.
»Darf ich mal telefonieren?« Ohne die Antwort abzuwarten, griff der Polizist zum Hörer und wählte eine Nummer. »Kellerfink, ist Henry nicht am Platz? Blöde. Wann kommt er zurück? Er soll in der
Weitere Kostenlose Bücher