Gottes Tochter
endgültige Ergebnis der Untersuchung steht noch aus. Wieso sollte Annalena diesen Brief nicht geschrieben haben? Und: Wer sonst? Wer?«
»Warum jetzt?«, fragte Süden.
»Vielleicht wollte sie, dass endlich Schluss ist mit der Vergangenheit.«
»Sie wollte Juri heiraten.«
»Vielleicht wollte sie es trotzdem. Aufräumen und neu anfangen.«
»Vielleicht«, sagte Süden. Er stand auf und ging zu einem der beiden großen Fenster mit den Lamellenvorhängen. Der Raum war hoch und hell, mit Stuck an der Decke und einem abstrakten Ölgemälde an der Wand.
Die Anwältin klopfte mit den Händen zweimal auf ihre Wangen. Sie schwitzte und schämte sich ein wenig für dieses luxuriöse Büro, wobei sie nicht wusste, warum. Ihr eigenes wurde gerade neu gestrichen, und sie war Teilhaberin in dieser Kanzlei, gleichberechtigt mit Werneck und Friese. Sie waren ein erfolgreiches Trio, das regelmäßig Mandate übernahm, die wenig oder gar kein Geld einbrachten, etwa wenn einer von ihnen als Zeugenbeistand für sozial schwache Opfer arbeitete. Was meist an ihr hängen blieb, sie war die Frau, sie hatte seit zehn Jahren Erfahrung auf diesem Gebiet.
»Annalenas Tod nützt Juri Gottow«, sagte Süden.
»Wem sonst?«
»Und wer soll das beweisen?«
»Das Mädchen aus Bayern?«, sagte Sibylle Kamphaus und stand ebenfalls auf. Nach kurzem Zögern ging sie zu dem anderen Fenster und kippte es.
»Und Rico Keel«, sagte Süden.
»Und Rico Keel«, sagte sie. Sie schwiegen.
»Und Steffen…«, sagte Süden.
»Steffen Nossek, dem auch«, sagte die Anwältin. Das Telefon klingelte, und sie ging zum Schreibtisch zurück.
»Maxi?« Sie hörte eine Weile zu und legte auf.
»Jetzt gibt es nur noch zwei Zeugen für die Vorgänge in dem brennenden Haus. Steffen Nossek ist anscheinend heute Nacht ermordet worden.«
»Von wem?«, Fragte Süden.
»Unbekannt.«
»Woher hat Ihre Sekretärin die Information?«
»Aus dem Radio.«
Süden hob die beiden Leitzordner auf die er auf den Boden vor dem Schreibtisch gelegt hatte. »Nur noch zwei Zeugen«, sagte er. »Einer von ihnen ist der Schuldige.«
»Sie machen sich keine Vorstellung, wie aggressiv die Leute hier sein können«, sagte Sibylle Kamphaus. »Sie fühlen sich an allen Ecken und Enden benachteiligt, gegenüber dem Westen, gegenüber den anderen Bundesländern im Osten, denen es wirtschaftlich besser geht, sie jammern und fluchen, und wenn sie eine Gelegenheit finden zuzuschlagen, dann tun sie es. Wie damals, als das Haus brannte. Sie sahen die rumänischen Asylbewerber, sie sahen ihre Kleidung und beobachteten sie beim Klauen, endlich war da jemand, der noch schwächer war als sie selber, endlich jemand, dem man heimzahlen konnte, dass man selber so beschissen dran war, endlich was los in diesem lähmenden Nichts. Juri Gottow, er war damals schuld und er ist es heute, das ist meine Überzeugung. Ich sag das nur zu Ihnen, in diesem Raum, und ich war damals ohnmächtig und heute bin ich es wieder. Ich kann nicht beweisen, dass die Zeugin dieses Mordes, und es war Mord, vorsätzlich umgebracht wurde, niemand hat eine brauchbare Aussage gemacht, genau wie damals, alles genau wie damals. Auch Ihr Mädchen nicht und deren Freund, die haben ebenfalls nichts Brauchbares beigesteuert, nur allgemeines Zeug, nur keinen hinhängen, nur nichts sagen, nur sich nicht das Maul verbrennen, immer schön zusammenhalten, wir sind eine große ausgebeutete Familie. Entschuldigen Sie. Entschuldigung.« Mit schnellen Schritten ging sie zu einem antiken Glasschrank und holte eine Flasche Cognac und ein Glas heraus. »Sie trinken bestimmt nicht mit.«
»Nein.«
Sie schenkte sich ein, stellte die Flasche zurück und schloss den Schrank.
»Es muss sein.« Sie trank das Glas in einem Zug aus.
»Vorgestern hab ich meinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert und heut frag ich mich, ob es richtig war, dass ich hierher gekommen bin. Ich bin viel zu… Ich nehm das alles zu persönlich hier, immer noch, die sozialen Umstände, die Motive, es fällt mir schwer… schwer, mir ein Urteil zu bilden und nüchtern zu handeln, ohne Emotionen…«
Plötzlich hatte sie den erschreckenden Verdacht, sie habe sich absolut unangemessen gehen lassen, vor einem Fremden, vor einem Polizisten, der sie aushorchte, der sie, wenn er ihre Geständnisse und ihre privaten Äußerungen seinen Kollegen in der Blücherstraße mitteilte, in größte Bedrängnis bringen konnte. Gewiss würde dann irgendeine Bemerkung von ihr an die
Weitere Kostenlose Bücher