Gottes Tochter
Die wissen ja nicht mal, dass Sie die Waffe haben, oder?«
»Wirklich nicht.«
»Das sind doch alles ehemalige Kollegen von Ihnen, von denen haben Sie doch nichts zu befürchten.«
»Woher weißt du das?«
Sie antwortete nicht. Von den Gerüchen wurde ihr übel, sie hielt sich die Nase zu und atmete durch den Mund.
»Ich lass das Geld hier liegen«, sagte sie. »Sie können uns die Pistole dann bringen.« Bevor er reagieren konnte, war sie an der Tür, zog sie auf, sah sich um und lief los.
»Fünfhundert Euro«, sagte der Mann. »Verdammt verdammt verdammt!«
»Wo bist du denn?«, sagte Marlen Keel leise.
»Ich versteh dich nicht«, sagte Rico am anderen Ende.
»Moment!« Sie sah, wie sich Süden in der Entfernung umdrehte, und machte einige Schritte in die entgegengesetzte Richtung. »Ich werd grad beobachtet. Wo bist du? Was ist passiert?«
»Ich brauch Geld, Mutti. Nicht viel, zweihundert, oder dreihundert. Du kriegst es wieder, ich brauch es dringend, meine Scheckkarte ist doch gesperrt…«
»Hast du Steffen umgebracht, Rico?«
»Ist er tot?«
»Ja, weißt du das nicht? Warum bist du denn weggelaufen?«
Dann fiel ihr Südens Vermutung ein. »Gehts dir gut? Ist dir was passiert? Was war denn…«
»Mir ist nichts passiert, ich hab… Ich kann dir nicht sagen, warum ich zugeschlagen hab, ich hab Julika alles erzählt, wir wollen weg, erst mal weg, sie hat eine Freundin in Berlin, Sarah oder so ähnlich, da fahren…«
»Sprich doch nicht so schnell, Rico! Ich versteh dich schlecht, wo bist du?«
»Wir müssen uns irgendwo treffen, wo uns niemand sieht, leihst du mir das Geld?«
»Wir müssen zur Polizei, Rico, du musst denen erklären…«
»Nein!«, sagte er laut, in der Heftigkeit, mit der er schon öfter zu ihr gesprochen hatte. »Entweder wir sehen uns noch mal, oder ich bin weg. Die Polizei wird alles zerstören, die wird mich einsperren und Julika zurückschicken. Und das will ich nicht, und Julika will es auch nicht. Wir wollen zusammenbleiben, wir gehen zusammen weg. Ich hab ihn nicht absichtlich umgebracht, ich wollt nicht…«
Sie kam nicht zum Sprechen, sooft sie auch ansetzte.
»… dass er stirbt, er hat sich so Scheiße benommen, und ich hab mich einfach… Ist doch egal jetzt. Gibst du mir das Geld?«
»Natürlich, Rico.«
»Wo treffen wir uns? Am besten in der Kirche am Lindenpark.«
»Warum dort?«
»Ich hab da in der Nähe zu tun.«
»Was machst du da, Rico?«
»Das sag ich dir nicht, dann brauchst du nicht zu lügen, wenn dich jemand fragt.«
»Glaubst du, ich würd dich verraten?«
»Nein.«
»Versprich mir, dass du nicht abhaust, ich will mit dir reden. Versprichs mir!«
»Pass auf, dass dich niemand verfolgt, kann sein, die Bullen beschatten dich.«
So einen Satz hatte sie aus seinem Mund noch nie gehört. Sie meinte nicht direkt den Inhalt – soweit sie sich erinnerte, war sie noch nie im Leben beschattet worden, obwohl man das früher nie wissen konnte -, es war die Art, wie er sprach, und der Ausdruck »Bullen«. Sogar früher, nach den Ereignissen am Sonnenblumenhaus und den schweren Monaten danach, hatte er immer von »Polizei« und »Polizisten« gesprochen, anders als seine Kumpel, für die »Bullen« oder »Scheißbullen« zum Alltagswortschatz gehörte. Pass auf, dass dich niemand verfolgt, kann sein, die Bullen beschatten dich. Ricos Stimme, dachte Marlen, klingt wie die eines Mannes, der es gewohnt ist, beschattet zu werden.
Am Geldautomaten tippte sie zuerst eine falsche Geheimnummer ein.
In der Kirche war es noch kälter als draußen, eine einzige Kerze brannte auf dem Seitenaltar. Rico war allein. Er saß in der letzten Bankreihe, am äußersten Rand, die Beine auf der Fußleiste, die Hände neben sich gestützt. Er dachte an nichts. Alle Entscheidungen waren getroffen, und er hatte sie alle akzeptiert. Gemeinsam mit Julika würde er die Stadt verlassen, von der er noch vor wenigen Wochen geglaubt hatte, sie sei seine ewige Heimat. Jetzt begann sie bereits zu verschwinden wie das Licht in dieser Kirche.
Er hatte keine Angst, entdeckt zu werden. Das war eigenartig. Eigentlich musste er damit rechnen, dass überall Polizisten nach ihm Ausschau hielten und seine Mutter, Herrn Spahn, seine Arbeitskollegen und jeden, der ihn kannte, verhörten, immerhin war er ein gesuchter Mörder. Doch diese Vorstellung schreckte ihn nicht. Nichts schreckte ihn mehr nach der grauenhaften Tat, die er gezwungen war zu begehen. Wenn Steffen ihn nicht angemacht
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