Gottes Tochter
zum Selbstmord ist etwas anderes.«
»Das weiß ich«, sagte Sibylle Kamphaus. »Ja, ja. Wenn man hätte beweisen können, dass der Mann suizidgefährdet war und durch die Lage, in die er unverschuldet geraten ist…«
»Sie verrennen sich, Frau Kamphaus.«
»Ja«, sagte sie, »ich konstruiere, ich habe jahrelang Konstruktionen gebastelt, damit ich endlich von dem Fall loskomme. Ich wollte ihn weghaben, so wie die Leute hier, auch ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Und jetzt…« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Kalt. Ich weiß, dass Annalena damals eine Aussage machen wollte. Und bevor es dazu kam, wurde sie zusammengeschlagen, sie lag drei Monate im Krankenhaus und danach verfiel sie in Apathie. In dieser Zeit lernte ich sie kennen, ich redete mit ihr, ich brachte sie dazu, sich mir anzuvertrauen. Wieder und wieder wiederholte sie dasselbe: Der Mann sei aus dem Fenster gesprungen, bevor ihre Freunde die Tür aufgebrochen hätten. Nach mehr als einem halben Jahr, in einer Nacht kurz vor Weihnachten, sagte sie plötzlich, Juri habe den Mann gepackt, geschlagen, angespuckt und dann rückwärts aus dem halb offenen Fenster geworfen. Ich sagte ihr, wie sehr ich sie für diese Aussage und ihren Mut bewundere. Und da fing sie an zu lachen. Sie habe mich nur verarschen wollen, sagte sie, sie habe mir nur eine Freude machen wollen, weil Weihnachten sei, alles, was sie gesagt habe, sei gelogen, dummes Zeug, Juri habe niemanden umgebracht, der Fidschi sei von selber gesprungen. Sie sagte: Fidschi. Manche Leute nennen die Vietnamesen noch heute so.«
Süden legte die beiden Ordner, die er auf den Knien festhielt, auf den Boden. »Trotzdem waren Sie überzeugt, dass Annalena die Wahrheit gesagt hat.«
»Ich hab ihre Augen gesehen, als sie die Szene geschildert hat, ihr Gesicht war ernst und angespannt, und sie war keine Schauspielerin, höchstens eine schlechte, sie machte keinen Scherz, sie meinte es ernst. Ich vermute, sie wollte ausprobieren, was passiert, mit ihr, sie wollte das alles loswerden, und wer weiß, vielleicht hab ich falsch reagiert, vielleicht hätt ich gar nichts sagen sollen, sie nicht loben, nicht gleich drauf einsteigen, vielleicht hätte ich gleichgültiger reagieren sollen. Aber ich war so… erleichtert, ich hatte endlich das erreicht, was ich wollte. Ich hab versagt, ich war zu eifrig. Aber ich weiß, ich weiß, so wahr ich hier sitze: Annalena hat gesehen, wie Juri Gottow diesen Mann aus dem Fenster geworfen hat wie ein Möbelstück. Er hat ihn ermordet, und es gab drei Zeugen, und nun gibt es nur noch zwei.«
Ihre Hand zitterte leicht, als sie Mineralwasser aus der Flasche ins Glas goss.
»Sie auch?«
»Nein«, sagte Süden. »Von wem wurde Annalena zusammengeschlagen?«
Die Anwältin trank einen kleinen Schluck. »Von drei Frauen. Drei Mädchen. Sie konnte sie nicht beschreiben.
Hat sie behauptet. Drei Mädchen. Sie wurden nie gefasst. Die Polizei hat auch nicht besonders intensiv nach ihnen gesucht.«
»Warum nicht?«
»Juris Vater war Polizist, wissen Sie das nicht? Er war damals auch für die Sache zuständig, er ermittelte gegen seinen eigenen Sohn, nicht persönlich, das machten seine Kollegen, aber er wusste Bescheid. Er war einer der Polizisten, die vor Ort waren und nicht eingegriffen haben, als die Neonazis aufmarschierten und gegen die Ausländer brüllten. Ich bin sicher, sie hätten am liebsten mitgebrüllt. Niemand wollte, dass die vier Jugendlichen angeklagt werden und ins Gefängnis kommen, niemand wollte das. Sie waren noch so jung, sie hatten sich einen Spaß erlaubt, ein Fidschi war gestorben, ein Unfall. Zeugen waren unerwünscht, Annalena war unerwünscht. Bei der hiesigen Zeitung war vor jenem Wochenende ein anonymer Anruf eingegangen, jemand drohte, die Rumänen, die um Asyl baten, und die anderen Ausländer zu verjagen. Die Zeitung hat den Wortlaut abgedruckt. Man war also darauf vorbereitet. Nur die Polizei anscheinend nicht. Und die Politik. Der Oberbürgermeister. Das war ein Klassentreffen von Rassisten, und bei so einem Klassentreffen gehts hoch her, das gehört sich so. Annalena… Niemals glaube ich, dass ihr Tod auf dem Schiff ein Unfall war. Die Staatsanwaltschaft in Schwerin hat einen anonymen Brief erhalten, in dem die Aussagen Annalenas von damals noch einmal bestätigt werden, jetzt, nach der langen Zeit. Höchstwahrscheinlich wurde er von einer Frau geschrieben, der Grafologe ist sich nicht sicher, weil die Schrift stark verstellt ist, das
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