Gottes Tochter
hab in Hamburg studiert, ich fand es spannend, in die neuen Länder zu gehen. Und kaum war ich hier, passierte dieses grauenhafte Ereignis, Sie kennen die Einzelheiten.«
»Ich kenne sie nicht«, sagte Süden. »Ich bin wegen des Mädchens hergekommen, und jetzt glaube ich, sie ist in eine Vergangenheit verwickelt, die nicht die ihre ist. Sie waren der Zeugenbeistand von Annalena Prinz, nachdem sie zusammengeschlagen worden war, genau wie jetzt Rico Keel.«
»Das meinte ich damit, dass ich niemandem etwas unterstellen will, ich bin nur vorsichtig geworden, zu wem ich was sage. Das ist eine Erfahrung. Kann sein, es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Überfall damals und dem vor zwei Wochen. Und es könnte sogar sein, dass der Tod von Annalena auf dem Schiff nicht zufällig war…« Sie blickte zur Tür, als fürchte sie, jemand käme unangemeldet herein. »Soweit ich die Fakten verstehe, war es ein Unfall, eine Explosion, und Annalena war in der Toilette eingeschlossen. Die Polizei behauptet das. Angeblich gibt es Zeugen. Rico Keel zum Beispiel.«
Süden strich sich, nach vorn gebeugt, die linke Hand auf den Akten, damit sie nicht von seinem Schoß glitten, die Haare aus dem Gesicht.
»Wem nützt der Tod von Annalena?«, fragte er. Diese Frage hatte Sibylle Kamphaus bisher nicht gestellt, die Antwort lag viel zu deutlich auf der Hand. Aber sie konnte nicht einschätzen, inwieweit sie diesem Polizisten vertrauen durfte. Er war nicht von hier, das war günstig, andererseits musste er mit seinen Kollegen kooperieren, wenn er bei der Suche nach dem Mädchen Erfolg haben wollte. Außerdem kam er ihr merkwürdig vor, sein Aussehen, seine zurückhaltende Art zu sprechen und wie er schaute, das vor allem, sein Schauen, fand sie, hatte etwas Physisches. Wie andere Leute, andere Polizisten, jemanden mit den Händen abtasteten, so benutzte er seine Augen, um sein Gegenüber zu untersuchen. Aber vermutlich war sie nur überdreht und unfähig klare Gedanken zu entwickeln, geschädigt vom Rausch der letzten zwei Tage, an die sie nicht erinnert werden wollte, weniger wegen der Getränke, die sie konsumiert hatte, als wegen des Anlasses.
»Ich sag Ihnen meine Sicht«, begann sie, »und Sie wählen aus, was Sie davon für Ihre Arbeit gebrauchen können.«
»Danke«, sagte er.
Zunehmend empfand sie seine Offenheit, die im Wesentlichen aus nichts als Schweigen bestand, als Einladung zu einem Gespräch ohne Worte. Sie vergaß ihre professionelle Vorsicht und wagte sich zum ersten Mal an eine Wahrheit heran, die sie seit Jahren bedrückte.
»Annalena, die Freundin von Juri Gottow, war in dem brennenden Haus mit dabei, vermutlich betrunken wie jeder, der sich dort aufhielt. Und Annalena hat gesehen, wie Juri den Vietnamesen bedroht hat, bis dieser aus dem Fenster sprang. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, niemand weiß das, außer denen, die dort waren. Und das sind Juri, Rico Keel, Annalena und Steffen Nossek, die vier waren als Einzige dort, mindestens eine halbe Stunde lang. Die Leute draußen haben sie angefeuert. Hinterher wollte niemand was gesehen haben, es hieß, die Sache sei eskaliert, die Polizei hätte einschreiten sollen. Das ist das Obrigkeitsdenken, das haben sie gelernt, die Verantwortung abschieben, so weit weg, bis man sie nicht mehr sehen kann.«
»Die vier sollten damals angeklagt werden«, sagte Süden.
»Sie waren Jugendliche, ja, sie sollten vor Gericht, aber es kam keine Anklage zu Stande. Schwerer Landfriedensbruch? Darum handelte es sich, aber es war unmöglich, Zeugen zu finden. Die Leute, die sich auf den Straßen und den Wiesen vor dem Haus versammelt hatten, waren in alle Winde verstreut, es waren ja nicht nur Einheimische da, eine Menge Chaoten kamen von auswärts, rechte Schläger, Skinheads. Man hätte sie alle wegen Mittäterschaft anklagen können, aber dieses Gesetz existierte damals noch nicht. Wenn zehn Vietnamesen aus dem Fenster gesprungen wären und die Leute hätten geklatscht und gejubelt, kein Staatsanwalt hätte eine Handhabe gegen sie gehabt. Heute ist das anders. Und dann: versuchter Mord? Keine Zeugen! Beihilfe zum versuchten Mord? Keine Zeugen! Beihilfe zum Selbstmord? Sie halten das für absurd…«
»Nein«, sagte Süden.
»Wenn es stimmt, dass Juri und die anderen den Mann so bedrängt haben, dass er keine andere Möglichkeit sah, als aus dem Fenster zu springen, wie würden Sie das nennen?«
»Er hatte nicht die Absicht sich umzubringen«, sagte Süden.
»Beihilfe
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