Gottes Werk und Teufels Beitrag
Cabriolet, und außerdem fiel bei aufgeklapptem Verdeck und beim lauten Brausen des Windes das Schweigen zwischen ihm und Candy weniger auf. Auch Candy war es lieber so; der Fahrtwind blies ihr das honigblonde Haar von allen Seiten ins Gesicht – in so wilden Haarwirbeln, daß ihr Gesicht manchmal völlig verdeckt war und Wally ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Wally wußte ohnehin, wie ihr Gesichtsausdruck war; er kannte sie sehr gut.
Wally spähte nach dem ungelesenen Buch auf Candys Schoß; sie hob es immer wieder hoch, aber wenn sie das Buch dann erneut auf ihren Schoß sinken ließ, hatte immer dieselbe Seite ein Eselsohr. Das Buch war Klein Dorrit von Charles Dickens. Es war die Sommerpflichtlektüre für alle Mädchen in Candys zukünftiger Abschlußklasse; Candy hatte es vier- oder fünfmal angefangen, wußte aber noch immer nicht, wovon das Buch handelte, geschweige denn, ob es ihr gefiel.
Wally, der nicht gern las, registrierte nicht einmal den Autorennamen; er sah nur immer dieselbe eselsohrige Seite an und dachte an Candy. Auch dachte er an St. Cloud’s. Er hatte die Abtreibung (in Gedanken) bereits hinter sich; Candy erholte sich gut; der Doktor erzählte Witze; alle Krankenschwestern lachten. In Wallys Vorstellung waren es genug Krankenschwestern, um einen Krieg zu gewinnen. Und die Waisen waren possierliche kleine Wichte, mit den passenden Lücken in ihren Grinsezähnen.
Im Kofferraum von Senior Worthingtons dahingleitendem Cadillac hatte Wally drei Apfelkisten, vollgestopft mit Süßigkeiten für die Waisen. Wäre es die rechte Jahreszeit gewesen, er hätte ihnen Äpfel und Cider mitgebracht; im Frühling gab es keine frischen Äpfel und auch keinen Cider, aber Wally hatte das – seiner Meinung nach – Nächstbeste besorgt. Er hatte den Cadillac mit Krügen und noch mal Krügen voll von Worthingtons bestem Cidergelee und Holzapfelgelee beladen und mit Halbgallonentöpfen voll von Ira Titcombs bestem Apfelblütenhonig. Zu dieser Abtreibung, so stellte er sich vor, würde er eintreffen wie Santa Claus (ein unglücklicher Vergleich, bedenkt man Wilbur Larchs Erinnerungen an jenes Abtreibungslokal »abseits von Harrison«).
Wally stellte sich vor, wie sich Candy nach ihrer Abtreibung aufrichten würde, im Gesicht die Erleichterung von jemand, dem gerade ein garstiger Splitter gezogen worden war; seltsamerweise bevölkerte Wally den Abtreibungsraum mit jener Aura von Festlichkeit, den man mit der Geburt eines willkommenen Kindes in Verbindung bringen würde. Die Luft in Wallys Wunschdenken war geschwängert von Glückwünschen – und durch die unbeschwerte Szene tollten die niedlichen Waisen von St. Cloud’s, jeder mit seinem eigenen Topf voll Gelee. Kleine Honigschlekker, glücklich wie junge Bärchen!
Candy klappte ihr Buch zu und ließ es wieder auf ihren Schoß sinken, und Wally hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
»Wie ist das Buch?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, sagte Candy und lachte.
Er kniff sie in den Schenkel; doch das Lachen blieb ihm irgendwie in der Kehle stecken. Sie kniff ihn zurück, ebenfalls in den Schenkel, und ihr Kneifen war von derselben Leidenschaft und ähnlichem Druck wie vorher bei ihm. Oh, wie erleichtert war er, daß sie sich so ähnlich waren!
Sie kamen durch immer ärmere, immer gaffendere Städtchen, wie verlorene Königskinder rollten sie dahin, während die Sonne immer höher stieg – der austernweiße Cadillac mit seinen sinnbetörenden Insassen verdrehte allen den Kopf. Die scharlachroten Polster mit den seltsamen Sprenkeln seit Seniors Unfall mit den Chemikalien – einfach einmalig. Keiner, der sie vorbeifahren sah, würde sie je vergessen.
»Es ist nicht mehr allzu weit«, sagte Wally. Diesmal wußte er etwas Besseres, als sie in den Schenkel zu kneifen; er ließ einfach seine Hand auf ihren Schoß sinken, neben Klein Dorrit. Candy legte ihre Hand auf die seine – während Melony, mit mehr als üblicher Zielstrebigkeit durch die Vorhalle der Mädchenabteilung pirschte und Mrs. Grogans großzügiges und wachsames Auge auf sich zog.
»Was ist los, meine Liebe?« fragte Mrs. Grogan Melony.
»Ich weiß nicht«, sagte Melony schulterzuckend. »Sie dürfen wetten, daß es kein neuer Junge im Städtchen ist, oder so«, was eine fast fromme Bemerkung war für Melony; Mrs. Grogan dachte: Wieviel sanfter ist das Mädchen geworden! Sie war sanfter geworden – ein klein wenig.
Etwas in der Entschlossenheit dieser massigen jungen Frau
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