Gottes Werk und Teufels Beitrag
Copperfield.
»Halt’s Maul«, sagte Curly zu seiner Fracht. Schlurfend entfernte er sich von Homer Wells, dem er einen zutiefst verdrießlichen und anklagenden Blick gönnte – mehr nicht. Sein Körper ruckte hin und her, während er sich davonstahl, den Karton mit David Copperfield im Schlepptau. Homer fiel auf, daß Curly die Schuhe verkehrt herum trug und einen nicht zugebunden hatte, aber er kam zu dem Schluß, daß es unpassend wäre, Curly zu kritisieren, der ebenso unbeschwert wie schmutzig war. Und wog seine Unbeschwertheit nicht schwerer als seine Schlampigkeit – zumal er Waise war?
»Mach’s gut, Curly«, sprach Homer zu dem gebeugten Rücken des Jungen; Curlys nicht eingestopftes Hemd reichte ihm bis an die Knie.
»Bis später, Homer«, sagte Curly mit abgewandtem Gesicht. Als er die Tür zur Apotheke passierte, tauchte Schwester Edna auf und schalt ihn.
»Du sollst hier nicht spielen, Curly«, sagte sie.
»Jaaa, jaaa«, sagte Curly. »Ich geh schon, ich geh schon.«
»Medna!« schrie David Copperfield mit seiner gedämpften Stimme aus der Tiefe des Klistierbeutelkartons.
»Edna heißt es, du kleiner Drecksack«, sagte Curly.
Dann war Homer an der Tür zu Schwester Angelas Büro, die offenstand. Er sah Dr. Larch an der Schreibmaschine sitzen; der Doktor schrieb nicht; er hatte kein Papier eingespannt. Dr. Larch schaute bloß aus dem Fenster. Im tranceartigen Gesichtsausdruck des Doktors erkannte Homer jene friedvolle Distanz, die der Äther in solchen Momenten bescherte, wenn Homer ihn, der »nur mal ausruhte«, in der Apotheke vorfand. Vielleicht war der Geisteszustand, in dessen Genuß der Äther Dr. Larch manchmal brachte, in zunehmendem Maß ein Geisteszustand, den Larch heraufbeschwören konnte, indem er nur aus dem Fenster schaute. Homer vermutete, daß Dr. Larch ein bißchen Äther gebraucht hatte, weil er an irgendwelchen Schmerzen litt; er vermutete, daß beinah jeder in St. Cloud’s an irgendwelchen Schmerzen litt und daß Larch, als Arzt, besonders qualifiziert sei, diese zu heilen. Der Geruch des Äthers war so widerlich und ekelerregend für Homer Wells, daß er kein Heilmittel war, für das er sich entschieden hätte. Er hatte sich noch nie überlegt, was eine Sucht war. Der Traumzustand war so gegenwärtig in Wilbur Larchs Gesicht, daß Homer Wells in der Tür stehenblieb, bevor er sein grauenvolles Präparat vorzeigte; beinah hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und das Baby aus Three Mile Falls wieder mitgenommen. Aber niemand erfährt die Gegenwart einer Seele als etwas so Beiläufiges, daß er das damit verbundene Sendungsbewußtsein unerwähnt verstreichen lassen könnte; und ein Sendungsbewußtsein verlangt meist nach etwas Demonstrativerem als einer beiläufigen Bemerkung. In der Tür zu Schwester Angelas Büro zögerte Homer; dann trat er vor und knallte das Metalltablett auf die Schreibmaschine. Das tote Baby aus Three Mile Falls lag in gleicher Höhe mit Dr. Larchs Kehle – zum Anbeißen nah, wie man in Maine sagt.
»Doktor Larch?« sagte Homer Wells. Larch wandte den Blick von seinem Traum ab; er schaute über das Baby hinweg auf Homer. »Die Ursache der Blutung war die Pulmonalarterie, die durchtrennt war – wie Sie sehen«, sagte Homer, während Larch den Blick auf das Präparat auf der Schreibmaschine senkte. Er starrte das Baby an wie etwas Geschriebenes, das auf sein Geheiß zum Leben gebracht und dann gestorben wäre.
Draußen vor dem Spital kreischte jemand, aber der Wind verwehte die Wörter zu einem unverständlichen Gebrabbel.
»Gottverdammt!« sagte Wilbur Larch und starrte die durchtrennte Arterie an.
»Ich muß Ihnen sagen, daß ich keine Abtreibungen ausführen werde, niemals«, sagte Homer Wells. Dies ergab sich logisch aus der aufgeschlitzten Arterie, das heißt, für ihn ergab es sich logisch, nicht aber für Dr. Larch.
»Du wirst nicht was?« fragte Larch verwirrt.
Draußen wurde das Kreischen lauter, aber nicht deutlicher. Homer Wells und Dr. Larch starrten einander über das Baby aus Three Mile Falls hinweg an.
»Ich komme, ich komme«, hörten sie Schwester Angela rufen.
»Das ist Curly Day«, erklärte Schwester Edna Schwester Angela. »Ich muß ihn und den kleinen Copperfield hier eben rauswerfen.«
»Niemals«, sagte Homer Wells.
»Du mißbilligst …?« fragte Dr. Larch Homer.
»Ich mißbillige nicht Sie«, sagte Homer Wells. »Ich mißbillige es – es ist nichts für mich.«
»Nun, ich habe dich nie gezwungen«, sagte Dr.
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