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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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veranlaßte Mrs. Grogan, ihr zu folgen. »O weh, welch ein Wind!« rief Mrs. Grogan. Wo kommst du denn her? dachte Melony, aber sie sprach kein Wort; sie war in einem Maß sanfter geworden, daß man es mit erlahmender Anteilnahme verwechseln konnte.
    »Es ist der Bahnhofsvorsteher«, sagte Homer Wells, der als erster die Leiche fand.
    »Dieser Schwachkopf!« murmelte Wilbur Larch.
    »Nun, jedenfalls ist er tot«, informierte Homer Dr. Larch, der sich erst durchs Unkraut zu der Leiche durchkämpfen mußte. Dr. Larch sagte nicht, was ihm auf der Zunge lag, nämlich daß der Bahnhofsvorsteher durch die Art seines Sterbens dem Waisenhaus nur weitere Unannehmlichkeiten bescheren wollte. Wenn Wilbur Larch sanfter geworden war, dann auch er nur ein klein wenig.
    St. Cloud’s war nicht der Ort, der einen sanfter werden ließ.
    Homer Wells spähte über das Unkraut, das den toten Bahnhofsvorsteher verbarg, und sah Melony daherkommen.
    Oh, bitte! spürte er sein Herz zu sich selber sagen. Oh, bitte, laß mich fortgehen! Der mächtige Wind strich ihm das Haar aus dem Gesicht; er stemmte seine Brust in den Wind, als ob er an Deck eines Schiffes stünde, das gegen den Wind steuerte und die Wellen eines Ozeans zerteilte, den er noch nicht gesehen hatte. Wilbur Larch dachte an das schwache Herz, das er für Homer Wells erfunden hatte. Larch fragte sich, wie er es Homer sagen sollte, daß er ein schwaches Herz habe, ohne den jungen Mann zu erschrecken oder ihn an den Blick zu erinnern, der im Gesicht des Bahnhofsvorstehers erstarrt war. Was, zum Teufel, hatte dieser Narr sich eingebildet? fragte sich Dr. Larch, während er den anderen half, den erstarrten Körper zur Spitalpforte zu schleppen.
    Curly Day, der es lustig fand, mit einer Aufgabe betraut zu werden, war schon zum Bahnhof geschickt worden; Klein Copperfield war mitgegangen, was Curly erheblich hemmte – aber Curly war dankbar für Gesellschaft. Curly war sich ein wenig im unklaren über die Botschaft, die er übermitteln sollte, und Copperfield gab wenigstens einen Versuchszuhörer für Curly ab. Curly studierte die Botschaft ein, die er übermitteln zu sollen glaubte, indem er sie David Copperfield laut vorsprach; die Botschaft machte keinen sichtbaren Eindruck auf Copperfield, aber Curly fand die Wiederholung der Botschaft tröstlich, und beim Einstudieren begann er sie auch langsam zu verstehen – meinte er jedenfalls.
    »Der Bahnhofsvorsteher ist tot!« verkündete Curly und zerrte Copperfield den Hügel hinab – Copperfields Kopf nickte entweder zustimmend oder baumelte nur locker zwischen den ruckenden Schultern des Jungen. Das Bergab-Tempo war schwierig für Copperfield, mit dessen Gleichgewicht es nicht zum besten stand, und seine linke Hand (von Curly Days Hand fest umklammert) wurde hochgerissen bis über sein linkes Ohr.
    »Doktor Larch sagt, er hatte seit einigen Stunden einen Herzanfall!« setzte Curly Day hinzu, was sich für ihn nicht ganz richtig anhörte, doch nachdem er es einige Male wiederholt hatte, hörte es sich schon vernünftiger an. Was Larch gesagt hatte, war, daß der Bahnhofsvorsteher anscheinend vor einigen Stunden einen Herzanfall gehabt hatte, aber seine eigene Version klang in Curlys Ohren immer richtiger – je öfter er sie aufsagte.
    »Sagen Sie den Verwandten und Bekannten, daß bald ein Automobil vorgenommen wird!« sagte Curly Day, und David Copperfields Kopf baumelte zustimmend. Dies hörte sich auch nicht ganz richtig an für Curly, ganz egal, wie oft er es wiederholte, doch er war sich ganz sicher, daß ihm aufgetragen worden war, so etwas zu sagen. Das Wort lautete »Autopsie«, nicht »Automobil«; einen Teil des Wortes hatte Curly richtig verstanden. Vielleicht, so dachte er, würde ein besonderes Auto kommen, um den Toten abzuholen. Es ergab ein bißchen Sinn, und ein bißchen Sinn war Sinn genug für Curly Day – es war mehr Sinn, als Curly in den meisten Dingen erkannte.
    »Tot!« krähte David Copperfield fröhlich, als sie sich dem Bahnhof näherten. Die üblichen zwei Flegel lungerten auf der Bank, die mit dem Rücken zu den Gleisen stand; sie waren die Sorte von Lümmeln, die den ganzen Tag lang am Bahnhof herumhingen, als sei der Bahnhof ein Haus voll schöner Frauen und als wären die Frauen bekannt dafür, daß sie allen Haltlosen und Arbeitslosen der Stadt ihre Gunst gewährten. Die beiden schenkten Curly Day und David Copperfield keine Beachtung. (»Tot!« rief David Copperfield ihnen zu, ohne Wirkung.)
    Der

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