Gottes Werk und Teufels Beitrag
benommen und hatte die Orientierung verloren. Er sah Curly nicht und auch nicht den Karton – zu dem er eine Zuneigung gefaßt hatte. Als er aufhörte zu kugeln, wollte er aufstehen, aber sein Schwindelgefühl – zusammen mit dem unebenen Boden – brachte ihn aus der Balance, und er setzte sich hin. Worauf er sich setzte, war etwas Hartes und Rundes, etwas wie ein Stein, aber als er nachschaute, was es war, sah er, daß es der Kopf des Bahnhofsvorstehers war – mit nach oben gekehrtem Gesicht und offenen Augen, ein sonderbar hingebungsvolles Erschrecken in seinen erstarrten Gesichtszügen.
Ein größeres Kind, oder ein Erwachsener gar, wäre womöglich bestürzt gewesen, auf dem Gesicht des toten Bahnhofsvorstehers zu sitzen, doch der kleine David Copperfield betrachtete es, wie er auch den Rest der Welt betrachtete: mehr neugierig als überrascht. Als er aber das Gesicht anfaßte und dessen Kälte fühlte, zeigte sich die Richtigkeit der kindlichen Empfindungen: Die Kälte war sicherlich falsch. Klein Copperfield sprang auf, kugelte, kam auf die Beine, rannte, stürzte, kugelte wieder. Endlich auf den Beinen, fing er an zu kläffen wie ein Hund. Curly Day fing an, ihn im hohen Unkraut zu suchen.
»Halt durch, halt durch, nur keine Aufregung!« rief Curly dem Jungen zu, aber Copperfield rannte und purzelte im Kreise herum und kläffte. »Bleib an deinem Platz, damit ich dich finde!« kreischte Curly. Er trat auf etwas, was unter seinem Schuh zur Seite rollte; es fühlte sich an wie ein frisch abgefallener Ast; es war der Arm des Bahnhofsvorstehers. Beim Versuch, die Balance zu halten, stützte Curly seine Hand auf die Brust des Bahnhofsvorstehers. Vom hohen Unkraut gegen den Wind abgeschirmt, schaute das starr blickende, unerschütterliche Gesicht ungerührt an Curly vorbei. Und nun gab es im Unkrautfeld zwei bellende Hunde, die darin wie in einem Labyrinth umherirrten. Es war ein Zeichen für Curly Days Tapferkeit und für sein grundsätzliches Verantwortungsgefühl, daß er nicht einfach aus dem Unkraut davonrannte, bevor er David Copperfield gefunden hatte.
Von ihrem Fenster aus beobachtete Melony das unerklärliche Hin-und-her-Wogen im Unkraut; sie hätte jederzeit Curly Day etwas zurufen und ihm David Copperfields Aufenthalt verraten können – an der Bewegung im Unkraut sah sie, welches bellende Wesen sich wo befand. Aber sie überließ es den beiden, sich allein zurechtzufinden. Erst als Curly Day den kleinen Copperfield über die Zufahrt hinaufschleppte, um die Knabenabteilung herum und zur Spitalpforte, fühlte sich Melony zu einem Kommentar veranlaßt.
»He, Curly, du Blödmann, du hast die Schuhe verkehrt herum an!« rief Melony. Aber der Wind war zu stark. Curly konnte sie nicht hören; und sie konnte nicht hören, was Curly kreischte. Nur noch ein weiteres Wort sprach sie aus dem Fenster, zu niemandem im besonderen; sie fand, daß der Wind ihr gestattete, genau das zu sagen, was sie fühlte – aus tiefstem Herzen, so laut, wie sie wollte, auch wenn sie sich gar nicht die Mühe machte, laut zu sprechen. »Langweilig«, sagte sie.
Doch interessanter wurden die Dinge für Melony, als Wilbur Larch und Homer Wells – und Schwester Angela und Schwester Edna – an der Zufahrt vor dem Lieferanteneingang der Knabenabteilung auftauchten. Sie durchsuchten eindeutig das Feld mit dem hohen Unkraut.
»Was sucht ihr?« schrie Melony aus dem Fenster, doch der Wind, oder aber die Zielstrebigkeit, mit der die Suchenden durch das Unkraut stürmten, ließ ihre Frage ungehört verhallen. Melony beschloß, selbst nachsehen zu gehen.
Es behagte ihr nicht, wie dieser Tag sich entwickelte, aber gleichzeitig war sie dankbar, dafür, daß überhaupt etwas passierte – das war doch zumindest vielversprechend.
Dieses Gefühl konnten Candy Kendall oder Wally Worthington nicht teilen, die drei Stunden peinlichen Schweigens hinter sich hatten – sie waren zu angespannt und erwartungsvoll, um zu reden. Es war noch dunkel gewesen, als sie die Küste bei Heart’s Haven verlassen und landeinwärts gefahren waren – fort von dem Wind, der allerdings auch hier noch überraschend heftig war. Am Vorabend hatte Wally die Landkarte so penibel studiert, daß der weiße Cadillac so zielstrebig vom Meer fortrollte, wie sich umgekehrt eine Auster oder ihre Perle resolut an die Küste schwemmen läßt. Eigentlich war es auch landeinwärts zu windig, um das Verdeck aufzuklappen, aber Wally hatte den Cadillac lieber als echtes
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