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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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als genug Blicke auf sich gezogen, doch auf das betäubte Gaffen des Bahnhofsvorstehergehilfen – und das Übermaß an Gaffen, das sie den beiden Lümmeln entlockten, die wie festgenagelt auf der Bank vor dem Bahnhofsgebäude hockten – waren sie trotzdem nicht vorbereitet.
    »Da sind wir: St. Cloud’s«, sagte Wally zu Candy – mit geheuchelter Begeisterung. Candy konnte einfach nicht anders; sie langte nach seinem Bein und kniff ihn fest in den Oberschenkel, so daß Klein Dorrit von ihrem Schoß glitt, ihre verschränkten Fesseln streifte und auf dem Boden des Cadillac aufschlug. Die Gesichter von Curly Day und David Copperfield trafen Candy mit ungleich größerer Wucht. Trotz Schmutz und Ungepflegtheit leuchtete Curly Days Gesicht – sein Lächeln war wie ein Sonnenstrahl; es durchstieß den Unrat und offenbarte einen verborgenen Glanz. Die riesengroße Erwartung in Curlys schmutzigem Gesicht benahm Candy schier den Atem; ihre Augen flossen über, ihr Blick verschwamm – aber erst, nachdem David Copperfields weit offenes Gaffermäulchen sie vollends verblüfft hatte. Von der tränentropfenförmigen dicken Unterlippe hing ein durchsichtiger, gesunder Sabberfaden, der fast bis zu seinen fest geschlossenen Fäustchen hinabreichte, die er auf sein Bäuchlein preßte, als habe der blendendweiße Cadillac ihm die Luft genommen, körperlich, wie ein Magenschwinger.
    Wally war sich nicht sicher, mußte aber davon ausgehen, daß der Bahnhofsvorstehergehilfe das Kommando über diese seltsame Menschenansammlung hatte. »Entschuldigen Sie«, sagte Wally zu dem Gehilfen, der keine Miene verzog und nicht mit der Wimper zuckte. »Könnten Sie mir den Weg zum Waisenhaus sagen?«
    »Sie sind aber wirklich schnell gekommen!« sagte der Gehilfe leblos. Ein weißer Leichenwagen! dachte er. Ganz zu schweigen von der Schönheit der Leichenträger; der Gehilfe fand sich außerstande, das Mädchen anzusehen; nie würde sein geistiges Auge den kurzen Blick vergessen, den es tatsächlich auf sie geworfen hatte.
    »Wie bitte?« sagte Wally. Der Mann ist geistesgestört, dachte Wally; ich sollte mit jemand anderem sprechen. Ein flüchtiger, suchender Blick auf die Lümmel auf der Bank genügte, um Wally zu sagen, daß er sie besser gar nichts fragte. Und das kleinere der Kinder, das mit dem kristallklaren Geiferfaden, der jetzt wie ein Eiszapfen im Sonnenlicht funkelte und beinah bis zu den grasbefleckten Grübchen an den Knien des Kindes hinabreichte, schien zu klein, um sprechen zu können. »Hallo«, versuchte Wally es freundlich.
    »Tot!« sagte David Copperfield, wobei sein Sabber wie Lametta an einem Weihnachtsbaum schaukelte.
    Er nicht, dachte Wally und suchte Curly Days Augen; Curlys Augen waren leicht zu finden – sie waren auf Candy fixiert. »Hallo«, sagte Candy zu ihm, und Curly Day schluckte sichtlich – und mit sichtlicher Pein. Das nasse Ende seiner Nase sah wund aus, trotzdem aber rieb er es energisch.
    »Könntest du uns den Weg zum Waisenhaus sagen?« fragte Wally Curly Day, der im Gegensatz zu den Lümmeln und zum Gehilfen wußte, daß der Cadillac mit den engelhaften Exemplaren menschlichen Lebens nicht gekommen war, um den unerwünschten Leichnam des toten Bahnhofsvorstehers abzuholen. Sie wollen zum Waisenhaus, dachte Curly Day. Sie sind hergekommen, um jemand zu adoptieren! verriet ihm sein pochendes Herz. O Gott, dachte Curly – mach, daß ich es bin!
    David Copperfield, in seiner typischen Trance, streckte die Hand aus, um das perfekte Monogramm an der Tür des Cadillac zu berühren: Senior Worthingtons Goldmonogramm, auf der Backe eines leuchtenden Roten-Delicious-Apfels – mit einem Blatt von frühlingsgrünem Glanz, von der ungekünstelten Form einer Träne. Curly fegte Klein Copperfields Hand beiseite.
    Ich muß das Kommando hier übernehmen, dachte Curly, wenn ich will, daß sie mich nehmen.
    »Ich werde Ihnen das Waisenhaus zeigen«, sagte Curly Day. »Nehmen Sie uns mit.«
    Candy lächelte und öffnete ihnen die hintere Tür. Sie war etwas überrascht, als Curly Klein Copperfield hochhob und in den Wagen stieß – nicht auf den Sitz, sondern auf den Fußboden. Copperfield schien ganz zufrieden auf dem Fußboden; ja, als er die sonderbar gesprenkelten Polster der Sitzbank berührte, zog er erschrocken das Händchen zurück, das noch nie Leder berührt hatte, und zuckte zusammen, als fürchtete er, die Sitzbank könne lebendig sein. Es war ein aufregender Tag gewesen für Klein Copperfield: den

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