Gottes Werk und Teufels Beitrag
in die Augen zu sehen.
Larch, der das Mädchen zum Eingang des Spitals gehen sah – und jene bedächtige Gangart wiedererkannte, die unvermeidlich jemanden befällt, der auf seine eigenen Füße achtet –, dachte plötzlich: Oh, es ist nur eine weitere Abtreibung, das ist alles. Er drehte sich um und folgte dem Mädchen und Homer, als Smoky Fields eben fertig war mit dem Krug Gelee und anfing, den Krug Honig aufzuessen. Smoky aß anscheinend ohne Befriedigung; aber er aß so systematisch, daß er, selbst als er von einer Waise neben ihm gerempelt wurde, niemals die Augen von seiner kleinen Pfote wandte, die sich in den Krug hineinschaufelte. Als er härter gerempelt wurde, ballte sich eine Art Knurren – oder Gurgeln – in seiner Kehle, und er krümmte die Schultern nach vorn, wie um den Krug vor anderen Raubtieren zu schützen.
Homer ging voraus zu Schwester Angelas Büro; auf der Schwelle sah er die Hände des toten Babys über den Rand des weiß emaillierten Untersuchungstabletts ragen, das immer noch auf Schwester Angelas Schreibmaschine stand. Die Hände des Babys warteten immer noch auf den Ball, doch Homers Reflexe waren schnell genug; er drehte sich unter der Tür herum und stieß Candy zurück auf den Flur. »Das ist Doktor Larch«, sagte Homer und machte die beiden miteinander bekannt, während er Candy über den Flur zur Apotheke geleitete. Wilbur Larch erinnerte sich nicht, daß auf der Schreibmaschine in Schwester Angelas Büro ein totes Baby lag.
Er sagte ärgerlich zu Homer: »Sollten wir Miss Kendall nicht einen Stuhl anbieten?« Er erinnerte sich auch nicht, daß der tote Bahnhofsvorsteher in der Apotheke lag, und als er die schmutzigen Schuhe des Schwachkopfs sah, zog er Homer zur Seite und flüsterte ihm schroff zu: »Hast du kein Gefühl für dieses arme Mädchen?« Homer flüsterte zurück, seiner Ansicht nach sei die Teilansicht eines toten Mannes immer noch besser als die Gesamtansicht eines toten Babys.
»Oh«, sagte Wilbur Larch.
»Ich werde jetzt die Frau aus Damariscotta entbinden«, fügte Homer, immer noch mit Dr. Larch flüsternd, hinzu.
»Na, beeile dich nur nicht zu sehr«, flüsterte Dr. Larch.
»Ich meine, ich möchte nichts mit dieser hier zu tun haben«, flüsterte Homer zurück und sah Candy an. »Ich werde nicht einmal zuschauen bei ihr, verstehen Sie?«
Dr. Larch betrachtete die junge Frau. Er glaubte, verstanden zu haben – ein wenig. Sie war eine sehr schöne junge Frau, das sah sogar Dr. Larch, und noch nie hatte er Homer in Gegenwart von jemandem so erregt gesehen. Homer bildet sich ein, daß er verliebt ist!, dachte Dr. Larch. Oder er bildet sich ein, daß er’s gern wäre. Bin ich denn total unsensibel geworden?, fragte sich Larch. Ist der Junge noch immer Junge genug, um Frauen romantisieren zu müssen? Oder ist er schon Mann genug, auch die Romanze mit einer Frau zu begehren?
Wally machte sich mit Homer Wells bekannt. Wilbur Larch dachte: Schon wieder der mit den Äpfeln im Hirn; warum flüstert er? Es kam Larch nicht in den Sinn, daß Wally, nach seinem teilweisen Blick auf den Bahnhofsvorsteher, glaubte, daß der Bahnhofsvorsteher schlief.
»Dürfte ich wohl einen Moment ungestört bleiben mit Miss Kendall«, sagte Wilbur Larch, »wir können uns doch alle ein andermal kennenlernen. Edna wird mir, bitte, bei Miss Kendall assistieren, und Angela – würden Sie Homer bei der Frau aus Damariscotta helfen? Homer«, erläuterte Dr. Larch Wally und Candy, »ist eine recht erfahrene Hebamme.«
»Bist du das?« sagte Wally begeistert zu Homer. »Toll.«
Homer Wells schwieg. Schwester Angela, aufgebracht über das Wort »Hebamme« und über die Herablassung, die sie ganz richtig in Dr. Larchs Ton gehört hatte, streifte ganz sanft Homers Arm und sagte zu ihm: »Ich werde dir die Zahl der Wehen angeben.« Schwester Edna, ihre unkritische Liebe zu Dr. Larch hell strahlend wie immer, wies munter darauf hin, daß verschiedene Leute in andere Betten umgelegt werden müßten, um ein Zimmer für Candy frei zu machen.
»Dann tun Sie das, bitte«, sagte Dr. Larch. »Dürfte ich wohl einen Moment ungestört bleiben mit Miss Kendall«, wiederholte er, doch er sah, daß Homer wie angewurzelt stehenblieb; Homer war sich nicht bewußt, daß er Candy anstarrte. Der Junge ist mir meschugge geworden, dachte Wilbur Larch, und er sah kein Anzeichen dafür, daß Apfelhirn beabsichtigte, die Apotheke zu verlassen. »Dürfte ich wohl Miss Kendall eben den Vorgang ein wenig
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