Gottes Werk und Teufels Beitrag
Sport, hatte Dr. Larch vermutet. Er hat den Körper eines Helden, dachte Dr. Larch und erinnerte sich an die Helden, denen er in Frankreich zu helfen versucht hatte, im Ersten Weltkrieg. Schlank, aber mit guter Muskulatur; das war der Körper eines Helden – und von Schüssen durchsiebt, dachte Wilbur Larch. Er wußte nicht, warum Wallys Körper ihn daran erinnerte.
Und Wallys Gesicht? dachte Wilbur Larch. Es war hübsch, auf eine feinere Art als Homers Gesicht, das ebenfalls hübsch war. Auch wenn Wallys Körper kräftiger war, waren seine Knochen doch irgendwie markanter – und zarter. Da gab es keine Spur von Zorn in Wallys Augen; es waren Augen voll guter Absichten. Der Körper eines Helden, und das Gesicht … das Gesicht eines Wohltäters! folgerte Wilbur Larch, eine blonde Schamhaarlocke wegbürstend, die nicht geradewegs in den Abfallbeutel gewandert, sondern an der Innenseite von Candys Schenkel haftengeblieben war, in der Nähe ihres erhöhten, angewinkelten Knies. Er vertauschte die mittelgroße Kürette gegen eine kleinere und bemerkte, daß die Augenlider des Mädchens flatterten, und bemerkte Schwester Ednas sanfte Daumen – die die Schläfen des Mädchens massierten – und die halb geöffneten Lippen des Mädchens; sie war erstaunlich ruhig gewesen für ein so junges Mädchen, und unter Äther war sie noch gesammelter. Die Schönheit in ihrem Gesicht, dachte Larch, lag daran, daß sie noch frei war von Schuld. Es überraschte Larch: daß Candy aussah, als würde sie immer frei davon bleiben.
Er war sich bewußt, daß Schwester Edna den musternden Blick bemerkte, den er dem Mädchen schenkte, und darum beugte er sich wieder über den Einblick, den ihm das Spekulum bot, und beendete seine Arbeit mit der kleinen Kürette.
Ein Wohltäter, dachte Wilbur Larch. Homer ist seinem Wohltäter begegnet!
Homer Wells dachte in paralleler Richtung. Ich bin einem Prinzen von Maine begegnet, dachte er; ich habe einen König Neuenglands gesehen – und ich bin eingeladen auf sein Schloß. Nach all seinen Reisen durch David Copperfield verstand er schließlich des kleinen David ersten Eindruck von Steerforth: »›In meinen Augen war er eine Person von großer Macht‹, beobachtete der kleine junge Copperfield. ›Keine verschleierte Zukunft umschimmerte ihn trübe im Mondlicht. Ich sah kein schattiges Bild seiner Fußstapfen in dem Garten, in dem ich im Traume die ganze Nacht spazierenging.‹«
Keine verschleierte Zukunft, dachte Homer Wells. Ich werde zur Küste fahren!
»Pressen«, sagte er zu der Frau aus Damariscotta. »Ist Damariscotta an der Küste?« fragte er die Frau, deren Hals straff war vor Anspannung – und die Schwester Angelas Hand mit einem knöchelweißen Griff umklammert hielt.
»In der Nähe!« schrie die Frau und stieß ihr Kind hinaus nach St. Cloud’s – sein glitschiger Kopf perfekt aufgefangen in der Fläche von Homers sicherer rechter Hand. Er ließ seinen Handballen unter den zerbrechlichen Nacken des Babys gleiten; seine linke Hand hob den Hintern des Babys, während er das Baby »nach draußen« geleitete – wie Dr. Larch sagen würde.
Es war ein Junge. Steerforth, so würde Homer Wells diesen hier nennen – seine zweite Solo-Entbindung. Homer durchtrennte die Nabelschnur und lächelte, als er Klein Steerforths gesundes Plärren hörte.
Candy, die sich aus der Narkose herauskämpfte, hörte die Schreie des Babys und schauderte; hätte Dr. Larch in diesem Moment ihr Gesicht gesehen, er hätte vielleicht ein wenig Schuld darin entdeckt. »Junge oder Mädchen?« fragte sie lallend. Nur Schwester Edna verstand sie. »Warum weint es?« fragte Candy.
»Es war nichts, meine Liebe«, sagte Schwester Edna. »Jetzt ist alles vorbei.«
»Ich möchte gern ein Baby haben, eines Tages«, sagte Candy. »Wirklich, das möchte ich.«
»Aber natürlich, meine Liebe«, sagte Schwester Edna zu ihr. »Sie können so viele haben, wie Sie wollen. Ich bin sicher, Sie würden sehr schöne Kinder haben.«
»Sie würden Prinzen von Maine haben!« sagte Dr. Larch plötzlich zu Candy. »Sie würden Könige Neuenglands haben!«
Oha, der alte Ziegenbock, dachte Schwester Edna – er flirtet! Ihre Liebe zu Dr. Larch geriet einen Moment ins Wanken.
Welch sonderbare Idee, dachte Candy – ich kann mir nicht vorstellen, wie sie aussehen würden. Ihre Gedanken schweiften ein Weilchen. Warum weint das Baby? fragte sie sich. Wilbur Larch, der alles aufräumte, entdeckte ein zweites lockiges Büschel von
Weitere Kostenlose Bücher