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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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frische Luft gehen«, sagte er zu Wally und Candy, die seinen Vorschlag als Befehl auffaßten – was er auch war. Sie verließen den Operationssaal; auf dem Flur zum Eingang des Spitals hätten sie den Bahnhofsvorstehergehilfen entdecken können, wäre der Gehilfe durch den Anblick von Dr. Larch, wie er den Leichnam des Bahnhofsvorstehers aus der Apotheke schleppte, nicht so entnervt gewesen, daß er vorsichtig versucht hatte, dieser beängstigenden Vision zu folgen. In seiner Angst bog er um die falsche Ecke und fand sich in der Apotheke wieder. Er stand am Fußende des Bettes und starrte auf das verschmutzte Laken, als Wally Candy nach draußen führte.
    »Wenn Sie so sicher sind, daß es sein Herz war«, fragte Homer Wells Dr. Larch, »warum haben Sie es dann so eilig, die Autopsie vorzunehmen?«
    »Ich muß tätig bleiben«, sagte Dr. Larch, erstaunt über den kaum gezügelten Ärger in seiner eigenen Stimme. Jetzt hätte er Homer sagen können, daß er ihn sehr liebte und daß er eine sehr aktive Tätigkeit brauchte, um sich von Homers Abreise abzulenken. Er hätte Homer beichten können, daß er sich sehr gerne auf seinem eigenen Bett in der Apotheke etwas ausgestreckt hätte, um sich ein wenig Äther zu verabreichen, daß er dies aber nicht gut tun konnte, solange der Bahnhofsvorsteher sein Bett besetzt hielt. Er wollte Homer in die Arme schließen und ihn herzen und küssen, aber er konnte nur hoffen, daß Homer verstand, wie sehr Dr. Larchs Selbstachtung abhängig war von seiner Selbstbeherrschung. Und darum sagte er nichts; er ließ Homer allein im Operationssaal, während er die kleine Schere suchen ging.
    Homer scheuerte den Tisch mit Desinfektionslösung. Er hatte den Abfallbeutel schon versiegelt, als er die beinah durchsichtige Blondheit des Schamhaarbüschels bemerkte, das an seinem Hosenbein haftete – eine dichte, frische Lokke von Candys besonders feinem Haar hatte sich an seinem Knie verfangen. Er hielt sie ans Licht, dann steckte er sie in seine Tasche.
    Schwester Edna weinte, während sie den Bahnhofsvorsteher entkleidete. Dr. Larch hatte ihr und Schwester Angela gesagt, daß es kein großes Abschiednehmen mit tausend guten Wünschen geben werde bei Homer Wells’ Abreise – nichts, was Candy und Wally argwöhnen lassen könnte, daß Homer auch nur daran dachte, er könnte für länger als zwei Tage mitkommen. »Nichts«, hatte Dr. Larch gesagt. Keine Umarmungen, keine Küsse, dachte Schwester Edna und weinte. Ihre Tränen hatten keinen Effekt auf die Miene des Bahnhofsvorstehers, dessen Gesicht von Furcht ergriffen blieb; Schwester Edna beachtete den Bahnhofsvorsteher gar nicht. Sie widmete sich ihrem Schmerz, nicht überströmen zu dürfen beim Abschiednehmen von Homer Wells.
    »Wir werden uns ganz zwanglos verabschieden«, hatte Dr. Larch gesagt. »Punktum.«
    Zwanglos! dachte Schwester Edna. Der Bahnhofsvorsteher war nackt bis auf die Socken, als Dr. Larch mit der kleinen Schere hereinmarschierte.
    »Es wird nicht geheult«, sagte er streng zu ihr. »Wollen Sie denn alles vermasseln?« Da riß sie dem Bahnhofsvorsteher die Socken herunter und warf sie nach Dr. Larch; darauf ließ sie ihn mit der Leiche allein.
    Homer Wells unterzog den Operationstisch einer gründlichen Inspektion, einer letzten Prüfung – einem letzten Blick. Er verlegte das Büschel von Candys Schamhaar aus seiner Hosentasche in seine Brieftasche; er zählte noch einmal das Geld, das Dr. Larch ihm gegeben hatte: fast fünfzig Dollar.
    Er kehrte in den Schlafsaal der Knaben zurück; Schwester Angela saß immer noch auf der Kante des Bettes, wo Curly Day immer noch schluchzte. Sie küßte Homer, ohne in der Bewegung ihrer Hand innezuhalten, die durch die Bettdecke hindurch Curly Day den Rücken rieb; Homer küßte sie und verließ sie ohne ein Wort.
    »Ich kann nicht glauben, daß sie ihn genommen haben«, murmelte Curly Day unter seinen Tränen hervor.
    »Er wird wiederkommen«, flüsterte Schwester Angela besänftigend. Unser Homer! dachte sie – ich weiß, er wird wiederkommen! Weiß er denn nicht, wo er hingehört?
    Schwester Edna, die sich zu fassen suchte, trat in die Apotheke, wo sie auf den zitternden Gehilfen des Bahnhofsvorstehers traf.
    »Kann ich Ihnen helfen?« fragte Schwester Edna, die sich innerlich sehr zusammennehmen mußte.
    »Ich bin gekommen, um den Körper in Augenschein zu nehmen«, murmelte der Gehilfe.
    Von jenseits des Flurs hörte Schwester Edna das vertraute Knacken der Sternum-Schere, die

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