Gottes Werk und Teufels Beitrag
einzelner Schrei, gefolgt von einer längeren Reihe von wimmernden Lauten. Homer und Candy und Wally hörten den Schrei nicht mehr; Wally hatte bereits den Wagen angelassen.
Der Gehilfe hatte längere Zeit gewartet, bevor er sich aus dem tiefen, niedrigen Sessel hochhievte. Er hatte nicht den Wunsch gehabt, den Inhalt des weiß emaillierten Untersuchungstabletts näher zu betrachten, aber die kleinen Finger hatten ihm zugewinkt, und er hatte sich von dem Tablett angezogen gefühlt, wo eine volle, nähere Betrachtung des aufgeschnittenen Fötus ihn (wie Curly Day) zwang, seine Hose naß zu machen. Er schrie, als er entdeckte, daß seine Beine sich nicht mehr bewegten; die einzige Möglichkeit, wie er Schwester Angelas Büro verlassen konnte, war: auf allen vieren; wimmernd kroch er über den Flur wie ein geprügelter Hund. Vor der Tür zum Operationssaal trat ihm Dr. Larch in den Weg.
»Was ist los mit Ihnen?« herrschte er den Gehilfen an.
»Ich habe Ihnen alle seine Kataloge mitgebracht!« brachte der Bahnhofsvorstehergehilfe, noch immer auf allen vieren, gerade noch heraus.
»Kataloge?« sagte Larch mit sichtlichem Abscheu. »Stehen Sie auf, Mann! Was fehlt Ihnen?« Er packte den zitternden Gehilfen unter den Achseln und zog ihn, selber zitternd, auf die Füße.
»Ich wollte nur die Leiche in Augenschein nehmen«, protestierte der Assistent schwach.
Wilbur Larch zuckte mit den Schultern. Was ist nur los mit dieser Welt, daß der Tod eine solche Faszination auf sie ausübt?, fragte er sich. Dann trat er beiseite und führte den Gehilfen in den Operationssaal, wo der Bahnhofsvorsteher mit freigelegtem Herzen und Gehirnstamm dalag.
»Eine plötzliche Änderung des Herzrhythmus«, erläuterte Wilbur Larch. »Irgend etwas hat ihn zu Tode erschreckt.« Es fiel dem Gehilfen nicht schwer, sich vorzustellen, wie man zu Tode erschreckt werden konnte, auch wenn er glaubte, daß der Bahnhofsvorsteher anscheinend von einem Zug überfahren worden oder aber demselben Verhängnis zum Opfer gefallen war, das für das schauerliche Baby auf der Schreibmaschine verantwortlich war.
»Danke«, sagte der Gehilfe flüsternd zu Dr. Larch, und dann rannte er so schnell über den Flur und nach draußen, daß seine Schritte Schwester Edna im Weinen innehalten ließen; vor lauter Weinen hatte sie die Schreie des Gehilfen und sein Wimmern vorher überhört.
Schwester Angela sah ein, daß nichts Curly Day trösten konnte, und darum versuchte sie, es sich auf seinem schmalen Bett bequem zu machen, im Bewußtsein, daß ihr eine lange Nacht bevorstand.
Dr. Larch saß an seinem üblichen Platz, an der Schreibmaschine; der von Homer Wells präparierte Fötus störte ihn nicht im mindesten. Vielleicht wußte er zu schätzen, daß Homer etwas zurückgelassen hatte, was Aufmerksamkeit verlangte – tätige Arbeit, tätige Arbeit, gib mir tätige Arbeit, dachte Wilbur Larch. Kurz bevor die Nacht anbrach, beugte er sich auf seinem Stuhl weit genug vor, um die Schreibtischlampe einzuschalten. Dann lehnte er sich zurück auf dem Stuhl, auf dem er so viele Abende verbracht hatte. Er schien auf jemanden zu warten. Es war noch nicht dunkel, aber er hörte eine Eule draußen – sehr deutlich. Also hatte der Wind von der Küste sich gelegt.
Während es immer noch hell war, schaute Melony aus ihrem Fenster und sah den Cadillac vorbeifahren. Die Beifahrerseite des Wagens war der Mädchenabteilung zugekehrt, und Melony erkannte auf dem Beifahrersitz Homer Wells’ Profil. Er saß steif, als hielte er den Atem an; das tat er auch. Hätte er sie gesehen (oder noch schlimmer: hätte er mit ihr sprechen müssen, um seine Flucht endgültig zu machen), hätte er es nicht fertiggebracht, ihr zu sagen, daß er bereits in zwei Tagen zurückkäme. Melony wußte, was eine Lüge war und was ein Versprechen war, und sie wußte, in welchem Moment ein Versprechen gebrochen wurde. Sie sah einen Schimmer von dem schönen Mädchen mit den langen Beinen auf dem Rücksitz des Wagens, und sie nahm an, daß der hübsche junge Mann am Steuer saß; einen längeren, besseren Blick hatte sie auf Homer Wells’ Profil. Als sie das gestohlene Exemplar von Klein Dorrit krachend zuklappte, war die Tinte noch feucht, und ihre Widmung wurde verschmiert. Sie warf das Buch gegen die Wand, was nur Mrs. Grogan hörte – Mary Agnes übergab sich noch immer kräftig und war zu sehr mit ihren eigenen Geräuschen beschäftigt.
Melony legte sich ohne Abendbrot gleich ins Bett. Mrs. Grogan
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