Gottes Werk und Teufels Beitrag
trat voller Sorge an Melonys Bett und befühlte ihre fiebrige Stirn; doch Mrs. Grogan konnte Melony noch nicht einmal dazu überreden, etwas zu trinken. Alles, was Melony sagte, war: »Er hat sein Versprechen gebrochen.« Später sagte sie: »Homer Wells hat St. Cloud’s verlassen.«
»Du hast ein wenig Fieber, meine Liebe«, sagte Mrs. Grogan, aber als Homer Wells an diesem Abend nicht kam, um aus Jane Eyre vorzulesen, fing Mrs. Grogan an, aufmerksam zu werden. An diesem Abend erlaubte sie Melony, den Mädchen vorzulesen. Melonys Stimme war sonderbar flach und leidenschaftslos. Melonys Art, aus Jane Eyre vorzulesen, deprimierte Mrs. Grogan, besonders als sie diese Stelle las:
… es ist Verrücktheit bei allen Frauen, eine heimliche Liebe in sich aufflammen zu lassen, die, wenn sie unerwidert oder unentdeckt bleibt, das Leben verzehren muß, das sie nährt …
Ach, das Mädchen zuckte nicht einmal mit der Wimper! beobachtete Mrs. Grogan.
Schwester Angela hatte mit ihrer Art, Dickens vorzulesen, in der Knabenabteilung ebenfalls wenig Erfolg. Die Dickensschen Schilderungen waren zu anstrengend für sie – sie verirrte sich in den längeren Passagen – und während sie immer wieder zum Anfang zurückkehren mußte, sah sie, daß die Jungen ihr Interesse verloren.
Schwester Edna tat ihr Bestes beim abendlichen Segenswunsch; Dr. Larch weigerte sich, Schwester Angelas Büro zu verlassen; er sagte, er lausche einer Eule und wolle weiterlauschen. Schwester Edna fühlte sich äußerst verlegen bei dem Segenswunsch, den sie überhaupt nie ganz verstanden hatte – sie hielt ihn für eine Art vertraulichen Scherz zwischen Dr. Larch und dem Universum. Ihre Stimme war zu schrill und schreckte den kranken kleinen Smoky Fields aus dem Schlaf und entlockte Curly Day ein langes, lautes Jammern, bevor er wieder zu seinem beharrlichen Schluchzen zurückkehrte.
»Gute Nacht, ihr Prinzen von Maine! Ihr Könige Neuenglands!« piepste Schwester Edna. »Wo ist Homer?« flüsterten mehrere Stimmen, während Schwester Angela in der Dunkelheit fortfuhr, Curly Day zwischen den Schulterblättern zu reiben.
Schwester Edna war immer noch äußerst aufgebracht über Dr. Larchs Verhalten und wild entschlossen, geradewegs in Schwester Angelas Büro zu marschieren und Dr. Larch zu sagen, er solle sich gefälligst eine gute Nase voll Äther und eine Mütze voll guten Schlafes gönnen! Doch je näher Schwester Edna dem einsamen Licht kam, das aus dem Büro schimmerte, desto zaghafter wurde sie. Schwester Edna wußte nichts von der Fötalautopsie, und als sie eher vorsichtig in Schwester Angelas Büro spähte, versetzte der grausige Fötus ihr einen ziemlichen Schreck. Dr. Larch saß nur reglos an der Schreibmaschine. Er verfaßte im Geiste den ersten von vielen Briefen, die er Homer Wells schreiben würde. Er versuchte, seine Ahnungen nicht laut werden und seine Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. Bitte, bleib gesund, bitte, sei glücklich, bitte, sei vorsichtig, dachte Wilbur Larch – und die Dunkelheit drängte um ihn herein, und die Hände des ermordeten Babys aus Three Mile Falls streckten sich flehend nach ihm aus.
6
Ocean View In den ersten zwei Wochen, die Homer Wells fort war von St. Cloud’s, ließ Wilbur Larch die Post unbeantwortet, Schwester Angela plagte sich mit Charles Dickens’ langen und dichten Sätzen (die einen sonderbaren Effekt auf die Aufmerksamkeit der Jungen hatten; sie klebten an jedem ihrer Worte, hielten den Atem an wegen der Fehler, die sie kommen sahen), und Mrs. Grogan ertrug Melonys ausdruckslose Wiedergabe von Charlotte Brontë. Gegen Ende des siebenundzwanzigsten Kapitels entdeckte Mrs. Grogan doch noch ein Mindestmaß von Jane Eyres »unbezähmbarem« Geist in Melonys Stimme.
»Ich kümmere mich um mich«, las Melony. »Je einsamer, je freudloser, je mehr auf mich selbst angewiesen ich bin, desto mehr will ich mich selbst achten.«
Gutes Mädchen, dachte Mrs. Grogan, bitte sei ein gutes Mädchen. Sie erklärte Dr. Larch, daß Melony, deren Vorlesestimme sie maßlos deprimierte, aufgemuntert werden müßte und daß sie mehr Verantwortung tragen sollte.
Schwester Angela sagte, sie würde Dickens am liebsten aufgeben. Dr. Larch verblüffte sie alle. Als Homer drei Wochen fort war, verkündete Dr. Larch, daß er sich einen Dreck darum schere, wer wem was vorlese. Er hatte überhaupt aufgehört, den Segenswunsch auszusprechen, und so blieb – auch wenn es bei ihr nie ganz natürlich klang – Schwester
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