Gottes Werk und Teufels Beitrag
Edna unbeirrt bei ihrem Abendgruß an die vorgeblichen Prinzen von Maine, »die lieben kleinen Könige Neuenglands«.
Mrs. Grogan war so erschüttert über Melonys Lesestimme, daß sie Melony jetzt in die Knabenabteilung begleitete und mit den zappeligen Jungen lauschte, wie Melony Dickens vorlas. Melonys Stimme war zu eintönig für Dickens; sie schleppte sich vorwärts – sie machte zwar keine Fehler, paßte aber ihren Tonfall nie richtig an; sie trug buntes Treiben und Sonnenschein mit dem gleichen schwerfälligen Ausdruck vor wie Trübsal und Nebel. An ihrer ernsten Miene sah Mrs. Grogan, daß Melony analysierte, während sie las – doch der Gegenstand ihrer Analyse war nicht Charles Dickens; Melony durchforschte Dickens nach bestimmten Charakterzügen, die sie mit Homer Wells in Verbindung brachte. Manchmal schien Melony allein durch die äußerste Konzentration in ihrem Gesicht nahe daran, Homers Verbleib in England etwa oder gar in einem anderen Jahrhundert aufzuspüren. (Dr. Larch hatte Melony gesagt, daß Homers gegenwärtiger Verbleib sie nichts angehe.)
Ganz gleich, ob Melony allen Dickensschen Esprit mit ihrem Ingrimm hinmordete oder ob die reichen und farbigen Details der Charaktere und Schauplätze eintönig und grau wurden durch ihre Stimme. »Das Mädchen hat keinen Schwung«, klagte Schwester Edna. Die Jungen hatten einfach Angst vor Melony und achteten deshalb mehr auf sie, als sie je auf Homer Wells geachtet hatten. Manchmal gilt das Interesse an Literatur nicht der Literatur – die Knabenabteilung war ein Publikum wie jedes andere: Eigeninteresse, persönliche Erinnerungen, geheime Ängste mischten sich in die Wahrnehmung dessen, was die Jungen hörten (ganz gleich, was Charles Dickens getan hatte und was Melony ihm antat).
Nicht gänzlich beruhigt bei dem Gefühl, die Mädchenabteilung unbeaufsichtigt zu lassen, während sie in die Knabenabteilung eilte, um Melony vorlesen zu hören, entwikkelte Mrs. Grogan die Gewohnheit, dem Abschnitt aus Jane Eyre ein kurzes Gebet nachzuschicken, das so wohlig wie unheilverkündend an den bleichen und fleckigen Bettdekken, auf denen das Mondlicht glühte, haftenblieb, lange nachdem Melony und Mrs. Grogan die Mädchen sich selbst überlassen hatten. Sogar Mary Agnes Cork wurde zum Schweigen – wenn auch nicht eben zu Wohlverhalten – gebracht durch Mrs. Grogans Gebet.
Hätte Mrs. Grogan gewußt, daß es das Gebet eines Engländers war, dann hätte sie es vielleicht nicht verwendet; sie hatte es im Radio gehört und im Gedächtnis behalten, und sie sprach es sich vor dem Einschlafen immer selbst vor. Das Gebet war von Kardinal Newman verfaßt. Als Melony anfing, den Jungen vorzulesen, machte Mrs. Grogan ihr privates Gebet publik.
»O Herr«, sagte sie unter der Flurbeleuchtung, in der offenen Tür, während Melony unruhig neben ihr stand. »O Herr, steh uns bei diesen Tag, bis die Schatten länger werden und der Abend kommt und die geschäftige Welt verstummt und die Hast des Lebens vorbei ist und unsere Arbeit getan. Dann gewähre uns in deiner Güte ein Dach über dem Kopf und gesegnete Ruhe und endlich Frieden.«
»Amen«, kam dann Melonys Einsatz – nicht eben schalkhaft, aber gewiß auch nicht ehrfürchtig. Sie sagte es so, wie sie aus Charlotte Brontë und aus Charles Dickens vorlas. Es ließ Mrs. Grogan frösteln, obwohl die Sommerabende warm und feucht waren und sie auf jeden von Melonys Schritten zwei machen mußte, um mitzuhalten bei ihrem entschlossenen Gang in die Knabenabteilung. Melony sagte »Amen« so, wie sie alles sagte. Ihre Stimme ist ohne Seele, dachte Mrs. Grogan mit klappernden Zähnen, während sie auf einem Stuhl in der Knabenabteilung saß, etwas abseits vom Licht, hinter Melony, in den Anblick ihres breiten Rückens versunken. Etwas in Mrs. Grogans gebannter Körperhaltung mochte schuld sein an dem Gerücht, das in der Knabenabteilung in Umlauf kam, möglicherweise durch Curly Day: daß Mrs. Grogan niemals zur Schule gegangen, sogar Analphabetin sei und unfähig, allein Zeitung zu lesen – und daher Melony ausgeliefert.
Die kleinen Jungen lagen verängstigt in ihren Betten und spürten, daß auch sie Melony ausgeliefert waren.
Schwester Edna war so beunruhigt durch Melonys Vorlesen, daß sie es kaum erwarten konnte, ihren Refrain von den Prinzen von Maine und Königen Neuenglands loszuwerden (auch wenn sie nicht wußte, was er bedeutete). Schwester Edna gab Melony die Schuld an der Zunahme von Alpträumen in der
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