Gottes Werk und Teufels Beitrag
sie.
Sogar Wally war sehr rücksichtsvoll. »He, Kumpel«, sagte er. »Wir wissen, daß das hier ein Schock für dich sein muß.« Sein armes Herz, dachte der gute Wally. Du lieber Junge, dachte Candy. Bitte, paß auf dein Herz auf. Sie legte ihre Wange an Homers Wange, küßte ihn neben sein Ohr und wunderte sich plötzlich, wie sehr sie diesen Freundschaftskuß genoß; Homer Wells wunderte sich auch. Trotz der kleinen trockenen Küsse, die Debra Pettigrew ihm im Überfluß geschenkt hatte, fühlte er sich in dem Augenblick, als Candy ihn küßte, von einem merklichen Unterschied überwältigt. Ein Gefühl von nirgendwo bestürmte ihn – und wenn er in Wallys freundliches, hübsches Gesicht sah, wußte er, daß dieses Gefühl nirgendwohin führen konnte. Sollte das Liebe sein? Und überfiel sie so – ohne daß man die Wahl hatte, etwas daraus zu machen? Wie der schwarzhäutige Nomade auf dem Kamel: was hatte der in einem Film über Piraten verloren?
Ich bin dieser schwarzhäutige Reiter auf dem Kamel, dachte der Waisenjunge Homer Wells. Wie hieß er doch gleich?
Später, nachdem er Debra Pettigrew nach Hause begleitet hatte und beinah von ihren Hunden aufgefressen worden war, fragte er Wally. Homer saß vorne im Cadillac – Candy in der Mitte der Sitzbank zwischen ihnen.
»Ein Beduine«, sagte Wally.
Ich bin ein Beduine, dachte Homer Wells.
Als Candy einschlief, sank sie gegen Wallys Schulter, was ihn aber beim Fahren störte; er schob sie sehr sanft in Homers Richtung. Den Rest des Weges nach Heart’s Haven schlief sie mit dem Kopf auf Homers Schultern, und ihr Haar streifte leicht sein Gesicht. Als sie zu Ray Kendalls Hummerbassin kamen, stellte Wally den Motor ab und flüsterte: »He, Schlafmützchen.« Mit einem Kuß auf ihre Lippen weckte er Candy auf. Sie setzte sich kerzengerade hin, wußte einen Moment nicht, wo sie war, und sie sah Wally und Homer vorwurfsvoll an, als müßte sie überlegen, wer von den beiden sie geküßt hatte. »Immer mit der Ruhe«, sagte Wally lachend zu ihr. »Du bist zu Hause.«
Zu Hause, dachte Homer Wells. Er wußte, für den Beduinen – auf seinem Weg von Nirgendwo nach Nirgendwo – gab es kein Zuhause.
Im August dieses Sommers brach ein anderer Beduine von seinem einstigen Zuhause auf; Curly Day ging fort von St. Cloud’s nach Boothbay, wohin ein junger Apotheker und seine Frau kürzlich gezogen waren, um ihr Leben ganz in den Dienst an der Gemeinschaft zu stellen. Dr. Larch hatte seine Zweifel hinsichtlich des jungen Paars, aber noch mehr Zweifel hegte er in bezug auf Curly Days Ausdauer, einen weiteren Winter in St. Cloud’s zu überstehen. Das Ende des Sommers war der letzte günstige Zeitpunkt für Besuche von Adoptiveltern; das gute Wetter im Frühherbst hielt nur kurz an. Und Curlys allgemein positive Einstellung schwand seit Homer Wells’ Weggang zusehends; Curly hatte sich nie überzeugen lassen, daß Homer ihm nicht doch irgendwie das schöne Paar weggenommen hatte, das ein gütigeres Schicksal für ihn vorgesehen hatte.
Der Apotheker und seine Frau waren kein schönes Paar. Sie waren wohlhabend und hatten ein gutes Herz; aber sie waren nicht geboren für ein Leben in Muße und konnten sich kaum je auf etwas einlassen, was auch nur im entferntesten einem angenehmen Leben glich. Sie hatten sich ihren Platz im Leben hart erkämpft und verfolgten nun das Ziel, ihren Mitmenschen zu helfen, indem sie ihnen beibrachten, wie man richtig kämpft. Sie hatten einen älteren Waisenjungen verlangt; sie wollten jemand, der imstande war, nach der Schule ein paar Stunden in der Apotheke zu arbeiten.
Ihre Kinderlosigkeit verstanden sie gänzlich als Gottes Fügung, und sie waren sich einig, daß Gott ihnen bestimmt hatte, ein Findelkind zu finden und es in den Methoden der Selbständigkeit und Selbsterziehung zu unterweisen, wofür das Findelkind reichlich belohnt werden würde, indem es die Apotheke des jungen Paares erbte – und damit die Mittel, dieses in einem anscheinend begierig ersehnten Alter zu versorgen.
Sie waren praktisch und christlich gesinnte Leute – wiewohl verbittert, als sie Dr. Larch von ihren früheren Anstrengungen berichteten, ein eigenes Kind zu bekommen. Bevor er das Paar kennenlernte – als er noch nur brieflich mit ihnen verkehrte –, hatte Larch gehofft, er könnte sie überreden, daß sie Curly seinen Vornamen behalten ließen. Wenn eine Waise einmal so alt ist wie Curly, wandte Larch ein, hat der Name mehr als eine
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