Gottes Werk und Teufels Beitrag
nebensächliche Bedeutung. Larchs Hoffnungen aber schwanden, als er das Ehepaar sah; der junge Mann war vorzeitig kahl geworden – so vollkommen kahl, daß Larch sich fragte, ob der Bursche nicht durch die Anwendung eines unerprobten pharmazeutischen Präparats zu Schaden gekommen sei –, und das Haar der jungen Frau war fein und dünn. Das Ehepaar wirkte schokkiert über Curly Days dichten Lockenkopf, und Larch befürchtete, daß ihr erster Familienausflug sie wahrscheinlich zu einem Frisör führen würde.
Curly selbst schien so wenig entzückt über das Paar wie das Paar über seinen Namen, aber er wollte weg von St. Cloud’s – und zwar dringend. Larch sah, daß der Junge noch immer auf die Adoption seiner Träume hoffte, auf ein Paar voll strahlender Verheißung auf ein anderes Leben, wie Candy und Wally es gewesen waren. Über das sehr schlichte junge Paar aus Boothbay sagte Curly Day zu Dr. Larch: »Sie sind in Ordnung. Sie sind nett, schätze ich. Und Boothbay liegt immerhin an der Küste. Ich glaube, das Meer würde mir gefallen.«
Larch sagte dem Jungen nicht, daß das Ehepaar, das ihn adoptieren würde, ihm nicht vorkam wie Leute, die ein Boot haben oder an den Strand gehen oder auch nur auf der Mole sitzen und angeln; in ihren Augen war ein Leben voll Spielerei mit, auf oder in der See vermutlich etwas Frivoles, etwas für Touristen. (Larch selbst war dieser Ansicht.) Larch nahm an, daß die Apotheke im Sommer den ganzen Tag geöffnet hatte und daß das hart arbeitende junge Paar jede Minute im Laden stand und Sonnenöl an Sommertouristen verkaufte, während beide selbst bleich wie der Winter blieben und stolz darauf waren.
»Seien Sie nicht so wählerisch, Wilbur«, sagte Schwester Edna. »Wenn der Junge krank wird, gibt es reichlich Pillen und Hustensäfte.«
»Für mich wird er immer Curly bleiben«, sagte Schwester Angela trotzig.
Schlimmer noch, meinte Larch: Curly würde für sich selbst immer Curly bleiben. Aber Larch ließ ihn gehen; es war höchste Zeit für ihn; das war der Hauptgrund.
Der Name des Ehepaars war Rinfret; Curly nannten sie »Roy«. Und so zog Roy »Curly« Rinfret nach Boothbay. Rinfrets Apotheke lag direkt an der Hafenpromenade; die Familie wohnte einige Meilen im Hinterland, wo das Meer außer Sichtweite war. »Aber nicht außer Riechweite«, hatte Mrs. Rinfret behauptet; wenn der Wind nur richtig stehe, könne man vom Hause den Ozean riechen.
Nicht mit Curlys Nase, fürchtete Dr. Larch; Curlys Nase war eine so ewig tropfende Angelegenheit, daß der Junge womöglich überhaupt keinen Geruchssinn mehr hatte.
»Freuen wir uns für Curly Day«, verkündete Dr. Larch der Knabenabteilung eines Abends im August 194– – über David Copperfields unermüdliches Schluchzen hinweg. »Curly Day hat eine Familie gefunden«, sagte Dr. Larch. »Gute Nacht, Curly!«
»’Nacht, Burly!« schrie Klein Copperfield.
Als Homer Wells den Brief empfing, in dem ihm von Curlys Adoption berichtet wurde, las er ihn immer wieder – im Mondlicht, das durch Wallys Fenster floß, während Wally schlief.
Ein Apotheker! dachte Homer Wells. Die Nachricht hatte ihn so durcheinandergebracht, daß er mit Wally und Candy darüber sprechen mußte. Sie hatten im Mondlicht gesessen, früher am Abend, und Schnecken von Ray Kendalls Anlegesteg geworfen. Ploink! Ploink! machten die Uferschnecken; Homer redete und redete. Er erzählte ihnen von jener Litanei – »Freuen wir uns für Curly Day«, und so weiter; er versuchte zu erklären, wie es sich angefühlt hatte, als Prinz von Maine angesprochen zu werden, als König Neuenglands.
»Ich habe mir immer jemand vorgestellt, der aussah wie du«, sagte er zu Wally.
Candy erinnerte sich, daß Dr. Larch auch zu ihr etwas Ähnliches gesagt hatte wie: ihre Babys würden irgendwelche Prinzen oder Könige sein. »Aber ich wußte nicht, was er meinte«, sagte sie. »Ich meine, er war freundlich – aber es war unvorstellbar.«
»Es ist mir immer noch unvorstellbar«, sagte Wally. »Was du erlebt hast, weißt du«, sagte er zu Homer. »Was ihr alle euch vorgestellt habt dabei – es muß sonderbar gewesen sein, für jeden von euch.« Wally war nicht bereit, sich damit abzufinden, daß der Ausdruck auf jemanden zutreffen sollte, der aussah wie er.
»Es klingt ein wenig spöttisch«, sagte Candy. »Ich verstehe einfach nicht, was er meinte.«
»Stimmt«, pflichtete Wally bei. »Es klingt ein bißchen zynisch.«
»War es vielleicht auch«, sagte Homer Wells.
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