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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Beduinen auf einem Kamel anfing, dann wäre Dr. Gingrich davon ausgegangen, daß die gefangengehaltene Frau unter dem starken Druck stand, jemand zu heiraten – auch wenn es ihre eindeutige Überzeugung war, daß sie nichts anderes wollte als ihre Freiheit. Seine Augen und sein zuvorkommendes Lächeln verrieten ein widerwärtiges Mitgefühl, das man vielleicht gar nicht verdiente – als wollte er durch die aufgesetzte Sanftheit seiner Stimme und die Langsamkeit, mit der er sprach, die Gewißheit vermitteln, daß alles viel komplizierter ist, als wir ahnen.
    Die älteren Mitglieder des Ausschusses – allesamt Männer, allesamt ältere Leute, wie Dr. Larch – fühlten sich eingeschüchtert durch diesen neuen Mann, der im Flüsterton sprach, und durch diese neue Frau, die so laut war. Gemeinsam schienen sie ihrer Sache sehr sicher; sie betrachteten ihre neue Rolle im Ausschuß weder als Lernerfahrung noch als Einführung in das Leben des Waisenhauses, sondern als Chance, die Zügel an sich zu reißen.
    O du liebe Güte, dachte Schwester Edna.
    Das gibt Ärger, das hat uns gerade noch gefehlt, dachte Schwester Angela. Es hätte nicht geschadet, einen jungen Assistenzarzt hier zu haben, oder auch eine Verwaltungshilfe; aber sie wußte, daß es Wilbur Larch darum ging, weiter Abtreibungen vornehmen zu können. Wie konnte er einen Neuankömmling akzeptieren, ohne dessen Einstellung zu kennen?
    »Nun, Doktor Larch«, sagte Dr. Gingrich sanft, »Sie wissen doch sicherlich, daß wir Sie nicht tatterig finden.«
    »Manchmal finde ich mich selber tatterig«, sagte Larch abwehrend. »Also nehme ich an, daß Sie das auch finden könnten.«
    »Der Druck, unter dem Sie stehen müssen«, sagte Dr. Gingrich. »Jemand mit Ihrer Verantwortung sollte jede nur erdenkliche Unterstützung bekommen.«
    »Jemand mit meiner Verantwortung sollte verantwortlich bleiben«, sagte Larch.
    »Bei dem Druck, unter dem Sie stehen«, sagte Dr. Gingrich, »ist es kein Wunder, daß es Ihnen schwerfällt, ein wenig von dieser Verantwortung zu delegieren.«
    »Für eine Schreibmaschine habe ich mehr Verwendung als für einen Delegierten«, sagte Wilbur Larch, doch als er mit den Augen blinzelte, sah er die funkelnden Sterne, die in klaren Nächten am Himmel von Maine standen, aber auch sein Ätherfirmament bevölkerten, und er war sich nicht sicher, welche Sterne er gerade sah. Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und ertappte Mrs. Goodhall dabei, wie sie etwas auf den imposant dicken Schreibblock kritzelte, der vor ihr lag.
    »Lassen Sie uns mal überlegen«, sagte sie scharf – verglichen mit Dr. Gingrichs schmächtiger Stimme. »Sie sind in den Siebzigern, nicht wahr?« fragte sie Dr. Larch.
    »Richtig«, sagte Dr. Wilbur Larch.
    »Und wie alt ist Missus Grogan?« fragte Mrs. Goodhall unvermittelt, als sei Mrs. Grogan gar nicht anwesend – oder schon zu alt, um selbst zu antworten.
    »Ich bin zweiundsechzig«, sagte Mrs. Grogan keck, »und springlebendig!«
    »Oh, niemand zweifelt daran, daß Sie lebendig sind!« sagte Dr. Gingrich.
    »Und Schwester Angela?« fragte Mrs. Goodhall, ohne jemanden anzusehen; die Überprüfung ihrer eigenen Schreiberei auf dem Block vor ihr nahm ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch.
    »Ich bin achtundfünfzig«, sagte Schwester Angela.
    »Angela ist stark wie ein Stier«, sagte Mrs. Grogan.
    »Daran besteht überhaupt kein Zweifel«, sagte Dr. Gingrich fröhlich.
    »Ich bin fünfundfünfzig oder sechsundfünfzig«, sagte Schwester Edna freiwillig, bevor die Frage gestellt wurde.
    »Sie wissen nicht, wie alt Sie sind?« fragte Dr. Gingrich bedeutungsschwer.
    »Tatsächlich«, sagte Wilbur Larch, »sind wir allesamt so senil, daß wir es uns nicht merken können – wir können nur raten. Aber sehen Sie sich selber an!« sagte er unvermittelt zu Mrs. Goodhall, was Mrs. Goodhall veranlaßte, ihre Augen von ihrem Block zu heben. »Ich nehme an, Sie haben solche Schwierigkeiten, sich an etwas zu erinnern, daß Sie alles aufschreiben müssen.«
    »Ich versuche nur, mir ein Bild zu machen von dem, was hier vor sich geht«, sagte Mrs. Goodhall gleichmütig.
    »Na«, sagte Dr. Larch, »dann hören Sie am besten auf mich. Ich bin lange genug hier, um das Bild ziemlich klar in meinem Kopf zu haben.«
    »Es ist ganz klar, was für wunderbare Arbeit Sie leisten!« sagte Dr. Gingrich zu Dr. Larch. »Es ist auch klar, wie hart Ihre Arbeit ist.« Dr. Gingrich troff so sehr von warmer Waschlappensympathie, daß Dr. Larch sich

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