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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sah, daß etliche der Männer sich in ihren Betten auf ihre Ellbogen stützten und warteten. Sogar Ma wälzte ihren großen Berg herum und schaute zu Melonys Bett herüber.
    »Still, ihr alle«, sagte Rather.
    Zum erstenmal in ihrem Leben hatte Melony Angst. Ungeachtet ihrer Anstrengungen und ihres leidvollen Umherreisens hatte sie das Gefühl, in die Mädchenabteilung zurückgekehrt zu sein, und zwar ohne es zu merken; doch es war nicht nur das. Es war das erstemal, daß jemand etwas von ihr erwartete; sie wußte, was Jane Eyre für sie selbst bedeutete – aber was mochte das Buch für die anderen bedeuten? Sie hatte es Kindern vorgelesen, die zu klein waren, um auch nur die Hälfte der Wörter zu verstehen, und zu klein, um bis ans Ende eines Satzes aufzupassen, doch es waren Waisen gewesen – Gefangene der Routine des Vorlesens; die Routine war es, was zählte.
    Melony hatte mehr als die Hälfte ihrer dritten oder vierten Reise durch Jane Eyre hinter sich.
    Sie sagte: »Ich bin auf Seite zweihundertundacht. Eine ganze Menge ist vorher passiert.«
    »Lies nur vor«, sagte Sammy.
    »Vielleicht sollte ich am Anfang beginnen«, schlug Melony vor.
    »Lies nur vor, was du selbst liest«, sagte Rather sanft.
    Melonys Stimme zitterte wie noch nie, als sie den ersten Satz vorlas: »›Der Wind brauste hoch in den großen Bäumen, welche das Tor überlaubten.‹«
    »Was heißt ›überlauben‹?« fragte Wednesday.
    »Wie eine Laube«, sagte Melony. »Wie etwas, das über einem hängt, zum Beispiel für Weintrauben oder Rosen.«
    »Wo die Dusche ist, das ist so eine Art von Laube«, sagte Sandra.
    »Oh«, sagte jemand.
    »›Aber die Straße, so weit ich sehen konnte‹«, fuhr Melony fort, »›lag zur Rechten wie zur Linken immer noch ganz still und desolat …‹«
    »Was ist das?« fragte Sammy.
    »Desolat heißt allein«, sagte Melony.
    »So was wie isoliert, ihr wißt doch, isoliert«, sagte Rather, und es gab beifälliges Gemurmel.
    »Hört auf, immer zu unterbrechen«, sagte Sandra.
    »Na, wir müssen doch verstehen«, sagte Wednesday.
    »Hört bloß auf«, sagte Ma.
    »Lies weiter«, sagte Rather zu Melony, und sie versuchte es.
    »›… die Straße … ganz still und desolat: bis auf die Wolkenschatten, die sie in Abständen überquerten, wenn der Mond hervorlugte, war sie nichts als ein langes bleiches Band, unvariiert durch einen bewegten Fleck‹«, las Melony.
    »Un-was?« fragte jemand.
    »Unvariiert heißt unverändert, nicht verändert«, sagte Melony.
    »Das weiß ich«, sagte Wednesday. »Das habe ich kapiert.«
    »Hör auf«, sagte Sandra.
    »›Eine puerile Träne‹«, begann Melony, aber sie hielt inne. »Ich weiß nicht, was ›pueril‹ heißt«, sagte sie. »Es ist nicht wichtig, daß ihr wißt, was jedes Wort heißt.«
    »In Ordnung«, sagte jemand.
    »›Eine puerile Träne verdüsterte mein Auge, indes ich schaute – eine Träne der Enttäuschung und Ungeduld: beschämt darüber, wischte ich sie ab …‹«
    »Na, was das ist, wissen wir jedenfalls«, sagte Wednesday.
    »›… ich verweilte‹«, las Melony.
    »Du – was?« fragte Sammy.
    »Hing herum; verweilen heißt herumhängen!« sagte Melony schneidend. Sie begann abermals: »›… der Mond schloß sich vollends ein in seine Kammer und zog seine dichten Wolkengardinen zu; die Nacht wurde finster …‹«
    »Jetzt wird’s unheimlich«, stellte Wednesday fest.
    »›… Regen kam rasch vor dem Wind dahergefahren.‹« Melony hatte »Brise« gegen »Wind« vertauscht, ohne daß sie es merkten. »›Ich wünsche, er würde kommen! Ich wünsche, er würde kommen! rief ich, ergriffen von einer hypochondrischen Vorahnung.‹« Damit hörte Melony auf; Tränen füllten ihre Augen, und sie sah die Wörter nicht mehr. Es gab ein langes Schweigen, bevor einer sprach.
    »Von was wurde sie ergriffen?« fragte Sammy erschrocken.
    »Ich weiß nicht!« sagte Melony schluchzend. »Irgendeine Art Furcht, glaube ich.«
    Eine Weile respektierten sie Melonys Schluchzen, dann sagte Sammy: »Ich schätze, es ist eine Art Gruselgeschichte.«
    »Warum willst du so etwas vorm Einschlafen lesen?« fragte Rather Melony mit freundlicher Anteilnahme, aber Melony streckte sich auf ihrem Bett aus und löschte ihr Licht. Als alle Lichter aus waren, spürte Melony, wie Sandra sich neben sie auf ihr Bett setzte. Wäre es Ma gewesen, das wußte sie, dann wäre ihr Bett schwerer eingesunken. »Wenn du mich fragst, solltest du diesen Freund besser vergessen«, sagte

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