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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dieser Entwicklungsstufe heißt Uterus duplex. Der Aufbau des Organs bei der Frau, den Homer Wells sehr genau kannte – zwei uterine Kanäle, die in eine Uterushöhle münden –, heißt Uterus simplex. Die dritte Variante des uterinen Aufbaus ist eine Zwischenform – eine teilweise Verschmelzung, die bei manchen Säugetieren (bei Schafen zum Beispiel) vorliegt; sie heißt Uterus bicornis.
    Der arme Mr. Hood verwechselte bei seinem Versuch, die Geheimnisse des Uterus auf der kreideverschmierten Tafel zu enträtseln, seinen Duplex mit seinem Bicornis; er bezeichnete ein Schaf als Kaninchen (und vice versa). Es war ein weniger dramatischer Irrtum, als wenn er sich die Frau mit zwei kompletten Uteri vorgestellt und diese Falschinformation in der Klasse verbreitet hätte, aber es war ein Irrtum; Homer Wells deckte ihn auf. Es war das erste Mal, daß er in der Lage war, eine Autorität zu korrigieren.
    »In solchen Situationen ist eine Waise besonders befangen und unsicher«, schrieb Dr. Wilbur Larch.
    »Entschuldigen Sie, Sir?« sagte Homer Wells.
    »Ja, Homer?« sagte Mr. Hood. Seine Hagerkeit ließ ihn, je nachdem, wie das Licht fiel, so nackt erscheinen wie die vielen Kaninchenkadaver, die offen auf den Labortischen der Schüler lagen. Er wirkte gehäutet, beinah bereit für die wissenschaftliche Rubrizierung. Eine freundliche, aber müde Geduld lag in seinen Augen, die das einzig Wache in seinem Gesicht waren.
    »Es ist umgekehrt«, sagte Homer Wells.
    »Wie bitte?« sagte Mr. Hood.
    »Das Kaninchen hat zwei komplette Uteri, das Kaninchen ist der Uterus duplex – nicht das Schaf, Sir«, sagte Homer. »Der Schafsuterus ist teilweise verschmolzen, er ist beinah einer – das Schaf ist der Uterus bicornis.«
    Die Klasse wartete. Mr. Hood blinzelte; einen Moment lang sah er aus wie eine Eidechse, die eine Fliege beobachtet, doch plötzlich wich er zurück. »Habe ich das nicht so gesagt?« fragte er lächelnd.
    »Nein«, murmelte die Klasse, »Sie sagten es umgekehrt.«
    »Nun, dann habe ich es verwechselt«, sagte Mr. Hood beinah fröhlich. »Ich habe es genau so gemeint, wie du es gesagt hast, Homer.«
    »Vielleicht habe ich Sie mißverstanden, Sir«, sagte Homer, aber die Klasse murmelte: »Nein, du hast es richtig verstanden.«
    Der untersetzte Junge namens Bucky, mit dem Homer seinen Kaninchenkadaver teilen mußte, stieß Homer in die Rippen. »Wie kommt’s, daß du alles weißt über Mösen?« fragte er Homer.
    »Durchsuche mich doch«, sagte Homer Wells. Diesen Spruch hatte er von Debra Pettigrew gelernt. Es war ihr spezielles Spielchen: Er stellte ihr eine Frage, die sie nicht beantworten konnte. Dann sagte sie: »Durchsuche mich doch.« Und Homer Wells sagte: »In Ordnung«, und fing an, sie zu durchsuchen. – »Nicht da!« kreischte Debra Pettigrew und schob lachend seine Hand weg. Immer lachte sie, aber immer schob sie seine Hand weg. Ausgeschlossen für Homer Wells, Zutritt zum Uterus simplex der Debra Pettigrew zu finden.
    »Ich müßte sie erst fragen, ob sie mich heiraten will«, sagte er zu Wally, als sie am Abend des Erntedankfestes wieder zusammen in Wallys Zimmer hockten.
    »So weit würde ich nicht gehen, alter Junge«, sagte Wally.
    Homer erzählte Wally nicht, wie er Mr. Hood in Verlegenheit gebracht hatte oder wie der Mann verwandelt schien durch diesen Zwischenfall. Schon immer hatte Mr. Hood leichenhaft gewirkt, aber jetzt trat auch Schlaflosigkeit in sein Gesicht – als sei er nicht nur tot, sondern auch schwer beschäftigt, weil er bis spät in die Nacht wach blieb und seine Anatomie des Kaninchens büffelte und sich abmühte, all die Uteri richtig auseinanderzuhalten. Seine Müdigkeit machte ihn etwas weniger leichenhaft, da Erschöpfung als Lebenszeichen gelten kann und immerhin auf eine Form menschlichen Lebens schließen läßt. Mr. Hood sah allmählich aus, als wartete er auf seine Pensionierung und hoffte nur, bis dahin noch durchzuhalten.
    Wo habe ich diesen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen? fragte sich Homer Wells.
    Schwester Angela oder Schwester Edna, oder sogar Mrs. Grogan, hätten ihm auf die Sprünge helfen können; sie alle waren vertraut mit diesem Gesichtsausdruck – dieser angestrengten Kombination von Erschöpfung und Ausdauer, diesem krassen Widerspruch zwischen grimmiger Angst und kindlichem Glauben. Seit Jahren hatte dieser Ausdruck auch noch das unschuldigste Mienenspiel von Wilbur Larch erfüllt; neuerdings hatten Schwester Angela und Schwester Edna, und sogar

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