Gottes Werk und Teufels Beitrag
er so nah vor Mr. Rose stand, und so plötzlich; er war ein wenig größer und ein ganzes Stück schwerer als Mr. Rose, und doch wirkte er unsicher. »Ich habe gesagt: ›In welchem Scheißgeschäft sind Sie, Mister?‹« wiederholte der Junge, und Mr. Rose lächelte.
»Ich bin im Kotzgeschäft!« sagte Mr. Rose demütig. Jemand in der Menschenmenge lachte; Homer Wells verspürte eine Woge der Erleichterung; Mr. Rose lächelte auf eine Weise, die es auch dem Jungen erlaubte, zu lächeln. »Tut mir leid, wenn du etwas davon abgekriegt hast«, sagte Mr. Rose höflich.
»Kein Problem«, sagte der junge Mann und wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten drehte sich der Junge fragend in Mr. Roses Richtung, doch Mr. Rose hatte Homer Wells am Arm genommen und ging bereits weiter. Homer sah den Schock im Gesicht des Jungen. Die Flanelljacke des jungen Mannes, deren Reißverschluß immer noch geschlossen war, flatterte, weit offen – ein einziger kühner Schnitt hatte sie vom Kragen bis zur Taille aufgeschlitzt –, und alle Knöpfe am Hemd des Jungen waren verschwunden. Der Junge starrte an sich hinunter und dann auf Mr. Rose, der sich nicht umsah, und dann ließ der Junge sich in die Geborgenheit der Menge ziehen.
»Wie haben Sie das gemacht?« fragte Homer Mr. Rose, als sie den Lieferwagen erreichten.
»Deine Hände müssen schnell sein«, sagte Mr. Rose. »Dein Messer muß scharf sein. Aber machen mußt du es mit den Augen. Deine Augen halten die Augen des anderen von deinen Händen fern.«
Das weit offene Jackett des Jungen zwang Homer, sich an Clara zu erinnern und daran, wie ein Skalpell keinen Fehler machte. Nur eine Hand macht Fehler. Es war ihm kalt in der Brust, und er fuhr zu schnell.
Als Homer von der Drinkwater Road abbog und durch die Obstgärten zum Ciderhaus fuhr, sagte Mr. Rose: »Siehst du? Ich hatte recht, nicht wahr? Was nützt es – Apfelpflückern –, etwas über dieses Rad zu wissen?« Es nützt nichts, etwas darüber zu wissen, dachte Homer Wells.
Und was würde es Melony guttun und nützen, etwas darüber zu wissen, oder Curly Day, oder Fuzzy – oder irgendwelchen Beduinen?
»Habe ich recht?« drängte Mr. Rose.
»Richtig«, sagte Homer Wells.
8
Die Chance klopft an Nach der Ernte auf der York-Farm fragte der Vorarbeiter Melony, ob sie noch bleiben und beim Mäusefangen mithelfen wolle. »Wir müssen die Mäuse erwischen, bevor der Boden gefriert, sonst spazieren sie den ganzen Winter im Obstgarten ein und aus«, erklärte der Vorarbeiter. Die Männer verwendeten Gifthafer und Giftmais, den sie um die Bäume herum verstreuten und direkt in die Gänge der Fichtenmäuse stopften.
Arme Mäuse, dachte Melony, aber sie versuchte es ein paar Tage mit dem Mäusefangen. Wenn sie einen Fichtenmausgang sah, versuchte sie ihn zu tarnen; Gift stopfte sie nie hinein. Und sie tat nur so, als ob sie den Hafer und den Mais um die Bäume streute; sie mochte den Geruch nicht und warf das Gift auf die Schotterstraße und füllte ihren Sack mit Sand und Kies, den sie statt dessen verstreute.
»Habt einen guten Winter, ihr Mäuse«, flüsterte sie ihnen zu.
Es wurde allmählich sehr kalt im Ciderhaus; man gab ihr einen Holzofen, dessen Rohr Melony durch ein Fenster im Schlafraum nach draußen leitete. Der Ofen sorgte dafür, daß die Toilette nicht einfror. Als eines Morgens die Außendusche eingefroren war, beschloß Melony weiterzuziehen. Nur kurz bedauerte sie, daß sie nun keine Mäuse mehr retten konnte.
»Falls du einen anderen Obstgarten suchst«, warnte sie der Vorarbeiter, »wirst du keinen finden, der im Winter Leute anheuert.«
»Ich möchte über den Winter eine Arbeit in der Stadt«, sagte Melony zu ihm.
»Welche Stadt?« fragte der Vorarbeiter. Melony zuckte die Schultern. Sie hatte das kleine Bündel ihrer Habseligkeiten fest mit Charleys Gürtel zusammengeschnallt; die Ärmel von Mrs. Grogans Mantel reichten ihr nur halb über die Unterarme, und um Schultern und Hüften saß der Mantel besonders knapp – dennoch schaffte Melony es, darin behaglich auszusehen. »Es gibt keine richtigen Städte in Maine«, sagte der Vorarbeiter.
»Es braucht keine richtige Stadt zu sein, damit sie für mich eine Stadt ist«, sagte Melony. Er schaute ihr nach, wie sie zur selben Stelle an der Straße wanderte, wo er ihr schon einmal Lebewohl nachgerufen hatte. Es war die Jahreszeit, da die Bäume nackt sind und der Himmel wie Blei aussieht und die Erde sich unter den Füßen mit jedem Tag
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