Gottes Werk und Teufels Beitrag
neuen zu schicken? (Als er den zweiten Fragebogen vom Ausschuß erhielt, wußte er, daß es Zeit war, den einen abzusenden, den er so mühselig ausgefüllt hatte – auf diese Weise schien es, als habe er ihn spontan ausgefüllt, aus reinem Herzen.)
Mit geheuchelter Ruhe schrieb er an Dr. Larch. Er wäre dankbar für weitere Einzelheiten bezüglich seiner Pulmonalklappenstenose. Hielt Larch es zum Beispiel für nötig, daß Homer sich monatlich untersuchen ließ? (Dr. Larch hielt das natürlich für unnötig.) Und gab es Anzeichen einer Verschlimmerung, die Homer selbst feststellen konnte; war es möglich, daß er seine vielleicht wiederkehrenden Geräusche selbst abhorchen konnte? (Beruhige dich, empfahl Dr. Larch; das war das beste – ruhig zu bleiben.)
In dem Bemühen, sich zu beruhigen, heftete Homer den Extrafragebogen – den er nicht ausgefüllt hatte – an die Wand von Wallys Zimmer direkt neben den Lichtschalter, so daß von den Fragen bezüglich des Lebens in St. Cloud’s eine ähnlich unbeachtete Autorität ausging wie von dem Blatt Papier mit den Verhaltensregeln, das jedes Jahr im Ciderhaus aufgehängt wurde. Wenn Homer kam und ging, sah er diese Fragen, die er mit so geschickten Lügen beantwortet hatte – zum Beispiel empfand er jedesmal, wenn er Wallys Zimmer betrat oder verließ, einen Kitzel, sich »irgendwelche möglichen Verbesserungen in den Methoden und in der Verwaltung von St. Cloud’s« auszudenken.
Nachts tanzte Homers Schlaflosigkeit jetzt zu einer neuen Musik; die winterlichen Zweige der abgepflückten Apfelbäume, die im frühen Dezemberwind klapperten, gaben ein sprödes Klick-Klack-Geräusch von sich. Im Bett liegend – während ein knochenbleiches Mondlicht seine auf der Brust gefalteten Hände scharf abzeichnete –, dachte Homer daran, daß die Bäume womöglich versuchten, den Schnee aus ihren Zweigen zu schütteln – bevor der Schnee da war.
Vielleicht wußten auch die Bäume, daß es Krieg geben würde, aber Olive Worthington dachte nicht an ihn. Sie hatte das winterliche Geklapper des Obstgartens manche Jahre gehört; sie hatte die winterlichen Zweige nackt gesehen, dann spitzenverziert vom Schnee, dann wieder nackt. Die Küstenwinde rüttelten den spröden Obstgarten so kräftig, daß die klirrenden Bäume wie in Säbelrasseln erstarrte Soldaten aussahen, doch Olive hatte diese Jahreszeit so oft gehört, daß sie nicht wußte, daß es Krieg geben würde. Wenn die Bäume ihr in diesem Dezember besonders nackt erschienen, so deshalb, dachte sie, weil sie ihrem ersten Winter ohne Senior entgegensahen.
»Erwachsene suchen nicht nach Zeichen im Vertrauten«, schrieb Dr. Wilbur Larch in Eine kurze Geschichte von St. Cloud’s, »aber eine Waise sucht immer nach Zeichen.«
Homer Wells saß an Wallys Fenster und suchte im skeletthaften Obstgarten nach der Zukunft – seiner eigenen vor allem, aber auch nach Candys und Wallys. Gewiß war Dr. Larchs Zukunft dort draußen, in den winterlichen Zweigen – sogar Melonys Zukunft. Und welche Zukunft gibt es für das Werk des Herrn? fragte sich Homer Wells.
Der Krieg, den es geben würde, kündigte sich in St. Cloud’s nicht durch Zeichen an; das Vertraute wie das Unvertraute vollzogen sich dort in stummen Ritualen und Gewohnheiten. Eine Schwangerschaft endete mit einer Geburt oder mit einer Abtreibung; eine Waise wurde adoptiert oder wartete darauf, adoptiert zu werden. Wenn eine trockene, schneelose Kälte hereinbrach, reizte der Sägestaub in der Luft die Augen und die Nasen und die Kehlen von St. Cloud’s; nur für kurze Zeit, wenn der Schnee frisch gefallen war, hatte der Sägestaub sich abgesetzt. Bei Tauwetter schmolz der Schnee weg, und der verfilzte Sägestaub roch wie nasses Fell; bei Frost kam der Sägestaub – trocken und irgendwie über dem alten Schnee – wieder zum Vorschein, und wieder juckten die Augen, flossen die Nasen und konnten die Kehlen sich nie ganz freiräuspern.
»Freuen wir uns für Smoky Fields«, verkündete Dr. Larch in der Knabenabteilung. »Smoky Fields hat eine Familie gefunden. Gute Nacht, Smoky.«
»Gute Nacht, Fmoky!« sagte David Copperfield.
»’Nacht!« schrie Klein Steerforth.
Gute Nacht, du kleiner Lebensmittelhamster, dachte Schwester Angela. Wer immer ihn zu sich genommen haben mochte, würde bestimmt bald lernen, den Kühlschrank abzuschließen.
Am nächsten Dezembermorgen, an dem Fenster, wo Melony einst – mit und ohne Kommentar – die Welt hatte vorbeiziehen
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