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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Gesundheitszustand der Waisen. Wiewohl ich keinen Grund sah, ihnen mitzuteilen, daß ich Fuzzy Stone an ein Leiden der Atemwege »verloren« habe – was hätte dieses Eingeständnis Fuzzy nützen können –, habe ich dem Ausschuß doch von Deinem Herzen berichtet. Falls mir einmal etwas zustoßen sollte, glaube ich, daß jemand dasein sollte, der es weiß. Ich entschuldige mich allerdings dafür, daß ich Dir nichts von Deinem Zustand gesagt habe. Ich sage es Dir jetzt, weil ich, wenn ich die Angelegenheit bedenke, niemals wünschen würde, daß Du zuerst von jemand anderem etwas über Dein Herz erfährst. Nun, sei nicht beunruhigt! Ich möchte nicht einmal von einem ›Zustand‹ Deines Herzens sprechen, so harmlos ist der Zustand: Du hattest als kleines Kind ziemlich ausgeprägte Herzgeräusche, doch sie waren fast ganz verschwunden, als ich Dich zum letzten Mal – im Schlaf – untersuchte; Du wirst Dich nicht daran erinnern – und ich habe es stets hinausgeschoben, Dein Herz Dir gegenüber auch nur zu erwähnen, aus Angst, Dich unnötig zu beunruhigen. (Solche Beunruhigung könnte den Zustand verschlimmern.) Du hast (oder hattest) eine Pulmonalklappenstenose, aber bitte beunruhige dich nicht! Es ist nichts, oder beinah nichts. Solltest Du Dich für Einzelheiten interessieren, so kann ich sie liefern. Einstweilen wollte ich nur nicht, daß Du Dir Sorgen machst wegen Narrheiten, die Du möglicherweise von diesem närrischen Treuhänderausschuß zu hören bekommst. Abgesehen vom Vermeiden jeder extremen Belastung oder Anstrengung, kannst Du beinah ganz bestimmt ein normales Leben führen.«
    Ein normales Leben? dachte Homer Wells. Ich bin ein Beduine mit einem Herzfehler, und Dr. Larch sagt mir, ich kann ein normales Leben führen? Ich bin verliebt in die Freundin meines besten – und einzigen – Freundes, doch würde Dr. Larch das als eine »extreme Belastung« bezeichnen? Und was war Melony für mich anderes als eine »extreme Anstrengung«?
    Wann immer Homer Wells an Melony dachte (was nicht oft vorkam), vermißte er sie; und dann wurde er wütend auf sich selbst. Warum sollte ich sie vermissen? fragte er sich. Er versuchte, nicht an St. Cloud’s zu denken; je länger er fortblieb, desto extremer erschien ihm das Leben dort – doch wenn er daran dachte, vermißte er es ebenfalls. Und Schwester Angela und Schwester Edna und Mrs. Grogan und Dr. Larch – er vermißte sie alle. Und bekam wieder eine Wut auf sich; dabei gab es kein einziges Zeichen von seinem Herzen, das ihm gesagt hätte, daß er sich ein Leben in St. Cloud’s wünschte.
    Er liebte das Leben in Ocean View. Er wünschte sich Candy und irgendein Leben mit ihr. Als sie wieder nach Camden ging, versuchte er, nicht an sie zu denken; und da er nicht an Wally denken konnte, ohne an Candy zu denken, war er erleichtert, als Wally wieder nach Orono ging, obwohl er Wally den ganzen Herbst über sehr vermißt hatte.
    »Wenn eine Waise deprimiert ist«, schrieb Wilbur Larch, »fühlt sie sich verleitet zu lügen. Eine Lüge ist wenigstens ein tatkräftiges Unterfangen, sie hält einen auf dem Sprung, indem sie einen plötzlich verantwortlich macht für das, was ihretwegen geschieht. Man muß wachsam sein, um zu lügen, und wachsam bleiben, um seine Lüge geheimzuhalten. Waisen sind nicht die Herren über ihr Schicksal; sie sind die allerletzten, die einem glauben werden, wenn man ihnen erzählt, daß auch andere Menschen ihr Geschick nicht in der Hand haben.
    Wenn man lügt, gibt es einem das Gefühl, Macht über das eigene Leben zu haben. Lügen zu erzählen ist sehr verführerisch für Waisen. Ich weiß das«, schrieb Dr. Larch. »Ich weiß es, weil ich ebenfalls welche erzähle. Ich liebe es, zu lügen. Wenn man lügt, fühlt man sich, als hätte man das Schicksal beschwindelt – das eigene und das der anderen.«
    Und so beantwortete Homer Wells den Fragebogen; er sang eine Lobeshymne auf St. Cloud’s. Er erwähnte die »Sanierung« der verlassenen Gebäude von St. Cloud’s als einen der vielen Versuche, die unternommen wurden, um das Alltagsleben des Waisenhauses in das Leben der Nachbargemeinden zu integrieren. Er log Schwester Angela ebenfalls an, aber es war nur eine kleine Notlüge – die Sorte Lüge, mit der man anderen Menschen etwas Gutes tut. Er schrieb ihr, daß er den ursprünglichen Fragebogen verloren habe und allein deshalb so säumig mit dessen Rücksendung gewesen sei. Ob der Ausschuß vielleicht so freundlich wäre, ihm einen

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